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Eine eigene Frau

Eine eigene Frau

Titel: Eine eigene Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Lander
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knallharter Kommunist bekannt war. Sie glaubte nicht, dass ein solches propagandistisches Machwerk über Beweiskraft verfüge.
    Ich konnte mir die Bemerkung nicht verkneifen, die Tragödie von Märynummi sei immerhin mehrfach als Tatsache anerkannt worden.
    Das möge sein, gab sie zu, aber sie habe gehört, Nurmi nenne in seinem Buch die Namen mehrerer Männer, die mit dieser unschönen Episode des Befreiungskrieges gar nichts zu tun gehabt hätten.
    Ich fand, dass man Mord an 50 Menschen nicht einfach als Episode abtun konnte. Außerdem hatte sich meiner Meinung nach der Begriff Bürgerkrieg für die Kämpfe von 1918 etabliert, da er den Charakter der Ereignisse besser widerspiegelte.
    Meine Gastgeberin stand auf und ging zwischen Küchenzeile und Couchtisch hin und her. Sie war irgendwie nervös. Sie finde den Zucker nicht, meinte sie. Auf mich machte sie nicht den Eindruck einer Person, die in ihrer eigenen Küche nicht die Zuckerdose fand. Ich sagte, ich wolle eigentlich ein bisschen abnehmen, weshalb wir den Zucker gern vergessen könnten.
    Allmählich hatte ich das Gefühl, ich sollte besser gehen, aber daran war nicht zu denken. Mit leicht zitternden Händen goss mir die Gastgeberin Kaffee ein.
    Ich erkundigte mich nach der Toilette, vorgeblich um mir die Hände zu waschen. In Wahrheit wollte ich der Situation entkommen, in der ein Teil meiner Aufmerksamkeit davon beansprucht wurde, meinen aus dem Strumpf ragenden großen Zeh unterm Teppichrand zu verstecken. Auf der Toilette wollte ich die Strümpfe tauschen, sodass sich das Loch auf Höhe des kleinen linken Zehs befände und man es nicht so sehen würde. Mir schien der Anruf bei Marja Rusanen eine noch schlechtere Idee gewesen zu sein als befürchtet.
    Zurück am Kaffeetisch sah ich, dass die Hausherrin in der Chronik nach Joel Tammistos Aufzeichnungen über seinen Aufenthalt im Bezirksgefängnis Turku gesucht hatte. Kaum hatte ich mich gesetzt und die Tasse zum Mund geführt, las sie mir einzelne Notizen vor:
    »25. Januar 1919. Haben Hefeteilchen aus Weizenmehl gebacken … 26. Januar. Beim Direktor zum Kaffee … 29. Januar. Habe Pfannkuchen gebacken. Zum Kaffee in der Kanzlei … 1. Februar. Habe Butter bekommen … 4. Februar. Beim Direktor zum Essen … 6. März. Angefangen Schach zu spielen … 10. März. Schwere Schneeballschlacht mit den Wärtern … 21. September. War zum ersten Mal im Buchhaltungskurs … 3. November. Der Buchhaltungskurs endete heute …«
    Sie kam beim Lesen richtig außer Atem, fuhr mit dem Zeigefinger die Zeilen entlang, um die ihrer Meinung nach besten Stellen zu finden, und spuckte die Worte nur so aus. Als sie beim Buchhaltungskurs ankam, warf sie die Schrift auf den Tisch und sagte, hier finde man in verdichteter Form die ganze Wahrheit über die Leiden der Roten als Gefangene der Weißen. Pfannkuchenpartys, Schneeballschlachten, Butter und Fortbildungskurse. So zart sei man mit einem Mann umgegangen, der für den größten Teil der Lebensmittelkonfiszierungen verantwortlich gewesen sei, die während des Befreiungskrieges in der Kommune stattgefunden hätten. Höchstwahrscheinlich sei er außerdem ein Pferdedieb gewesen. Sei es nicht eigentlich Sitte, Pferdediebe aufzuhängen?
    »Die armen Tiere!«
    Es sah aus, als bekäme sie feuchte Augen.
    Ich stand auf und bedankte mich für den Kaffee. Ich hatte absolut keine Lust, weiter über das Schicksal der Pferde im Bürgerkrieg zu sprechen. Als Maurer traf ich häufig auf zartfühlende Frauen, deren Bedürfnis, streunende estnische Hunde ins Land zu schmuggeln oder alte Reitpferde vorm Schlachter zu retten, jeder Vernunft spottete. Es war sinnlos, ihnen etwas von den Krankheiten zu erzählen, die ihre goldigen Flohhaufen verbreiteten, und wegen denen das Gesetz strenge Quarantäne vorschrieb. Ebenso wenig Sinn hatte es, ihnen zu sagen, dass die Beseitigung eines Pferdekadavers nach allen Richtlinien der Direktiven sie höchstwahrscheinlich um ihre Ersparnisse bringen würde.
    Ich kenne die Geschichte der finnischen Gesetzgebung nicht, aber meiner Auffassung nach sind in diesem Land noch nie Pferdediebe hingerichtet worden, jedenfalls nicht in den letzten 500 Jahren. Frau Rusanen hatte zu viele Western gesehen. Als ich die Schuhe anhatte und gehen wollte, kam sie auf den Kern der Sache zu sprechen. Ich kannte dieses Phänomen. Eine Kundin erlebt es oft als etwas äußerst Persönliches, wenn in ihrer Wohnung etwas so Zentrales wie ein neuer Ofen gebaut wird. Eine solche Frau

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