Eine eigene Frau
Strand gehörte zwar angeblich nicht zum Grundstück, der schöne Blick aufs Meer jedoch schon.
Marja Rusanen sah aus wie auf dem Foto in der Zeitung, aber sie redete von Anfang an, vielleicht aus Nervosität, in atemberaubendem Tempo, fast aggressiv. Sie entschuldigte sich für die Unordnung, ließ mich herein und zeigte mir, wo ich die Schuhe hinstellen konnte. Das brachte mich in Verlegenheit, denn einer meiner Strümpfe hatte ein Loch. In dem Moment wurde mir klar, dass ich tatsächlich viele Jahre lang bei niemandem zu Besuch gewesen war. Maurer und Marketingleiter durften immer die Schuhe anbehalten, private Gäste anscheinend nicht.
Ein gähnender Hund kam in den Flur getrottet, ein Golden Retriever, der zunächst träge bellte, dann aber meine Hand leckte. Küche und Wohnzimmer waren nicht voneinander getrennt, so wie es heutzutage üblich ist, in dem Versuch, die alte Wohnküche zu kopieren. Das gesamte Interieur hätte gut und gern aus einer Einrichtungszeitschrift stammen können. Das Mobiliar war wohl das, was man eine »geschmackvoll umgesetzte Kombination aus antiker Patina und Ikea-Praktikabilität« nannte. Ich war leicht beklommen vom sterilen Gesamteindruck, weshalb ich mit einer gewissen Erleichterung feststellte, dass immerhin Hundehaare auf den Polstern zu erkennen waren. Das Tier folgte mir zur Couch, und ich vermutete, es während meines gesamten Besuchs kraulen zu müssen.
Die Hausherrin fragte, ob ich eine Tasse Kaffee wollte. Beim Mauern von Öfen hatte ich gelernt, dass man diese Frage immer positiv beantworten sollte.
»Milch und Zucker?«
»Keine Milch, danke, aber gerne etwas Zucker.«
Sie eilte zur Kaffeemaschine und drückte den Knopf. Dann stellte sie ein Tablett mit einigen Stücken Biskuitrolle und Dominokeksen auf den Tisch.
Ich erzählte ihr, ich sei am Leben in Halikko in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts interessiert, ganz besonders an den Jahren ab 1918. Sie hatte auch über diese Themen geforscht, aber sie sagte, sie spiele mit dem Gedanken, es in irgendeiner Form zu veröffentlichen, und sei darum etwas vorsichtig damit, genaue Einzelheiten zu verraten. Sie könne mir aber verschiedene Quellen empfehlen.
Als Erstes legte sie mir eine Chronik des Dorfes aus den achtziger Jahren hin, wobei sie allerdings anmerkte, die würde mir wahrscheinlich nicht allzu viel nützen. Die Verfasserin beherrsche die Verschriftlichung der südwestlichen Dialekte und habe vor lauter Begeisterung so viel Eigenes zwischen den Interviews eingestreut, dass der Leser nicht mehr wissen könne, was Fakt und was Fiktion sei. Auf die Tagebucheintragungen des Sägewerkarbeiters, die in der Chronik veröffentlicht wurden, konnte ich mich hingegen verlassen. Marja Rusanen besaß nämlich auch Kopien des Originalheftes und wusste daher, dass lediglich bei einigen Namen Veränderungen vorgenommen worden waren.
Ich sagte ihr, ich hätte die Chronik bereits kennengelernt und somit auch die Tagebucheintragungen von Joel Tammisto.
»Ach ja?«, sagte sie und wollte wissen, was ich davon hielte.
Ich sagte, es seien großartige und interessante Aufzeichnungen. Außerdem erwähnte ich die Erinnerungen von Olavi Mikkola, die ich in Arvis Bücherregal entdeckt hatte, und die Beteiligung ihres Verfassers an den Aktivitäten des Schutzkorps in Halikko. Wie sich herausstellte, war mein Fund nicht so einzigartig, wie ich es mir gedacht hatte. Auch Marja Rusanen besaß Mikkolas Erinnerungen. Sie sagte, das Original würde im Archiv des Kultursekretärs von Halikko aufbewahrt. Dort konnten es von jedem, der sich für das Thema interessierte, gelesen und kopiert werden, aber sie war der Meinung, man müsse es eigentlich auf Kosten der Kommune vervielfältigen, binden lassen und veröffentlichen. Zumal mit staatlicher Unterstützung so viel widerlicher, die Wahrheit verfälschender Mist über jene Zeit gedruckt werde.
Ich sagte, Mikkolas Erinnerungen wirkten auch auf mich ehrlich und beweiskräftig. Von den Randbemerkungen, die Arvi Malmberg gemacht hatte, erzählte ich ihr nichts.
Meine Gastgeberin schien sich aufgrund unserer Geistesverwandtschaft etwas zu erwärmen, wurde aber sogleich wieder reservierter, als ich sagte, ich hätte auch das im Selbstverlag erschienene Buch von Olavi Nurmi, der die andere Seite vertrat, gelesen. Darin werde von einem erschütternden Massenmord in Märynummi berichtet. Nurmis Buch hatte Marja Rusanen nicht gelesen und wollte es auch nicht lesen, weil Nurmi als
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