Eine eigene Frau
Moment für eine Rolle. Auch die Frauen hinter dem Tisch scheinen ihm wohlwollend zuzulächeln.
»Eine Million Wähler mehr«, sagt Joel, »all ihr verehrten Frauen und bald auch unsereiner mit euch. Wenn sich jetzt die Verhältnisse in diesem Land nicht bessern, wann dann?«
Als er sich, die Marseillaise pfeifend, umdreht, stößt er mit Sakari Salin zusammen und schafft es, bei der stürmischen Umarmung auch dessen Hemd mit Dünnbier zu besudeln. Sakari zieht Joel beiseite und bietet ihm einen Schluck aus dem Blechflachmann an, den er aus der Jackentasche zieht. »Also dann … Nimm davon!«
Joel hält den Flachmann feierlich vor sich in die Höhe.
»Auf das Allgemeine und Gleiche!«
Sakari räuspert sich.
»Genau, und darauf, dass wir ein Zweites bekommen haben. Ein Mädchen bloß, aber trotzdem …«
Joel schlägt ihm auf den Rücken.
»Verdammt noch mal! Das muss unter Männern ordentlich gefeiert werden«, sagt Joel.
Sakari blickt leicht verlegen aufs Meer. Er müsse wohl wieder nach Hause. Weil die Geburt ein bisschen schwierig gewesen sei und so …
»Das war diese Geburt auch!«
Ja, ja, stimmt Sakari zu, aber er werde jetzt trotzdem im Guten heimgehen. Damit Frau Jonsson fortkönne, und weil Seelia Ruhe brauche. Und wo man sich nun um das neue Kleine kümmern müsse.
Sakaris Stimme ist vor Rührung belegt. Er verschließt den Flachmann, schiebt ihn in die Innentasche seiner Jacke und geht mit großen Schritten den Hügel hinunter. Erstaunt sieht Joel zu, wie der Freund hinter den Ahornbäumen verschwindet. Das muss man sich vorstellen, dass einem Mann ein kleines Mädchen mehr bedeutet als die von den Ständen akzeptierte umwälzende Erneuerung des Wahlrechts.
Da glaubt man, einen anderen Menschen durch und durch zu kennen, weil man von Kindesbeinen an mit ihm zusammen alles Mögliche gemacht hat, und dann muss man nach und nach feststellen, dass sie so gut wie nichts mehr gemeinsam haben. Wie kann Sakari in so einer Stunde bloß bei seiner Familie in der engen Kammer bleiben und die ganze Welt aussperren? Sieht er wirklich nicht, wie geringfügig ein solches Leben ist? Wie klein und nichtig neben jenen Dingen, die etwas bedeuten?
Saida, 10
Herrenhaus Joensuu, Juni 1906
Am ersten Sonntag im Juni werden Saida und Siiri von ihrem Großvater zum Herrenhaus gerufen, um beim Gießen der Tomaten- und Gurkensetzlinge im Gewächshaus zu helfen. Einer seiner Gartengehilfen ist krank, und man weiß nicht, wann er wieder gesund wird.
Herman gefällt es nicht, dass die Mädchen lernen, das sonntägliche Arbeitsverbot zu brechen, aber die Bitte des Schwiegervaters kann man nicht abschlagen. Schon lange ist dessen Rücken in schlechtem Zustand, und es steht zu befürchten, dass der Graf ihn mit niedrigeren Arbeiten betrauen oder gar in den Ruhestand versetzen wird.
»Es haben ja auch die Menschen und die Tiere jeden Tag Durst, warum also auch nicht die von Gott geschaffenen Pflanzen?«, traut sich Emma zu sagen.
Vom sonntäglichen Durst wüsste Saida eine Menge zu erzählen, wenn es nicht mit so viel Peinlichkeit verbunden wäre, dass man nicht einmal daran zu denken wagt.
Der große Sonntagsdurst peinigt Saida und Siiri jede Woche bei dem Ausflug, der dem Aufbau der körperlichen Verfassung dienen soll und zu dem sie von ihrem Vater gezwungen werden.
»Hopp, hopp, Gott hat uns einen gewandten Körper gegeben, damit wir ihn ertüchtigen«, kommandiert er die Mädchen ins Freie, während er selbst am offenen Fenster verschiedene Turnübungen macht. Er nimmt an allen möglichen Sportwettkämpfen des Arbeitervereins teil und gewinnt auch immer einen Preis; oft schnappt er ihn wesentlich jüngeren Männern vor der Nase weg.
Im Winter wird der Ertüchtigungsausflug auf Skiern absolviert. Dann ist es ein fast pausenloses Stochern im Tiefschnee. Schlimmer als die Skiausflüge finden die Mädchen allerdings die vom Frühling bis zum Spätherbst stattfindenden Fußmärsche, bei denen der Vater zusätzliches Kreisen der Schultern und Schwingen der Arme verlangt. Immer wieder hört man auf der Straße oder auf den Waldwegen Hermans tragende Stimme erschallen:
»Schwenkt die Arme, Mädchen, schwenkt die Arme!«
Er selbst stapft seinen Töchtern sportlich forsch voran und gibt ihnen ein Beispiel, wie die Arme im Takt der flotten Schritte auf und ab bewegt werden müssen.
Auch das würden die Mädchen noch ertragen, stünde ihnen nicht noch die unerträgliche Prüfung des Nachhausekommens bevor. Der Moment, in
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