Eine eigene Frau
dem sie verschwitzt, erschöpft und – was das Schlimmste ist – mit knallrotem Kopf die Dorfstraße entlangziehen müssen. Jedes Kind im Dorf kann den Sonntagsausflug von Herman und seinen Töchtern ausgezeichnet nachahmen. Das Gnadenlose der Aufführungen besteht darin, dass sie von den Schauspielern nicht einmal Übertreibung verlangen, um unendlich lustig zu sein: »Schwenkt die Arme, Mädchen, schwenkt die Arme!«
Jedes Mal beten die Geschwister innerlich, dass die anderen Kinder bereits an den Esstisch gerufen worden sind. Absichtliches Trödeln ist schwierig, da auch Emma mit Kartoffeln und Fleischsoße auf ihre Familie wartet.
Der Geruch des warmen Schweinefleischs löst in Saida jedes Mal mehr Übelkeit aus, sodass sie nichts anderes will als einen großen Becher Wasser. Aber Herman, von der Wanderung erfrischt und heiter, treibt die Mädchen an den Tisch. Durch ordentlichen Appetit nach dem gesunden Aufenthalt an der frischen Luft erweisen sie auf die bestmögliche Weise ihre Dankbarkeit gegenüber dem Allmächtigen, der ihnen in seiner großen Güte die Gaben des sonntäglichen Tisches beschert, wie auch gegenüber dem Vater, der dieselben durch fleißige Arbeit und ohne sich zu schonen, beschafft hat. Sowie natürlich der Mutter gegenüber, die sie zubereitet hat.
Siiri hat von Natur aus einen guten Appetit, und es bereitet ihr keine Mühe, den Teller zu leeren. Anders verhält es sich mit Saida. Aber da sie weiß, dass es keinen Ausweg gibt, macht sie sich entschlossen daran, den Teller leerzuschaufeln, sobald Herman das Tischgebet gesprochen hat. Die Qual ist danach noch immer nicht vorbei, denn von der Sonntagsmahlzeit dürfen die Mädchen sich nicht wie sonst davonstehlen.
»Denkt daran, den Sonntag zu heiligen und die von unserem Herrn gestiftete Tischgemeinschaft zu ehren«, belehrt sie der gut gelaunte Herman mit erhobenem Zeigefinger.
Saida beobachtet mit zusammengebissenen Zähnen, wie ihr Vater unendlich langsam den Sonntag heiligt und die Tischgemeinschaft aufrechterhält: Nach jeder Gabel hat er etwas über den Lauf der Welt zu sagen, und wenn endlich der Kartoffelhaufen von seinem Teller verschwunden ist, schneidet er noch Brot in kleine Würfel und lässt sie in der Soße kreisen, bis er auch den letzten Fitzel Schweinefleisch und die allerletzte Preiselbeere vom Teller gewischt hat.
Erst dann dürfen die Mädchen nach draußen gehen. Mit Siiri auf den Fersen rennt Saida so schnell sie kann den Hügel hinunter und am Ufer entlang bis in das dichte Erlengestrüpp hinter der Schafweide, wo die Aufgabe der kleinen Schwester darin besteht, aufzupassen, dass niemand Zeuge der unausweichlichen Schändung der gesegneten Sonntagsmahlzeit wird.
Wegen dieser sonntäglichen Schinderei sind die Mädchen über die Bitte des Großvaters begeistert. Es käme ihnen gar nicht in den Sinn, ihr Los zu beklagen, obwohl das Gießen der unendlich langen Reihe von Saatpflanzen in dem stickig heißen Treibhaus anstrengend ist und ihnen einiges abverlangt. Dafür dürfen sie Wasser trinken, so viel sie wollen. Gegen Mittag hat Oma Zeit, ihnen und Arvi rasch Saft und Butterbrote zu bringen, die sie auf der schönen schmiedeeisernen Bank vor dem Wintergarten verzehren.
Um halb vier am Nachmittag kommt Großvater und sagt, die Arbeit des Tages sei getan und die Mädchen dürften den Rest des Tages mit Arvi und den anderen Kindern spielen. Ein Stallbursche des Guts wird sie am Abend nach Hause fahren, sobald er von seinen anderen Arbeiten befreit ist.
Saida schlägt das Spiel »Zehn Hölzchen auf dem Brett« vor. Auch die vier Kinder des Gutsverwalters werden hinzugebeten, Stefan, das jüngste von ihnen, ist erst fünf. Als Ort des Spiels einigt man sich auf den flussseitigen Teil des Englischen Parks, wo es im Schutz von Eichen, Linden, Tannen und üppigen Ziersträuchern großartige Verstecke gibt. Auch die Kinder des Konsuls, die einige Tage zuvor eingetroffen sind, kommen mitten im Spiel dazu.
Nora und Paul nehmen an diesem Nachmittag nämlich zufällig mit dem Kindermädchen ihren Nachmittagskakao im Pavillon des Englischen Parks zu sich. Normalerweise haben die Kinder der Dienerschaft im Pavillon nichts verloren, aber Saida durfte im letzten Sommer einmal die Palmen, Hortensien und Lilien gießen, die dort in großen Töpfen stehen, während Großvater die aus den Ampeln quellenden blauen Lobelien goss. Er erzählte damals, Gräfin Nadine habe die Setzlinge einst von ihrer Italienreise mitgebracht.
Weitere Kostenlose Bücher