Eine eigene Frau
Vermutlich war in Finnland nie zuvor versucht worden, sie erfolgreich zum Blühen zu bringen.
Weil das Vorbild des Pavillons ein antiker Rundtempel war, sollten auch die dazugehörigen Anpflanzungen auf entzückende Weise den mediterranen Eindruck verstärken. Was ein Tempel war, wusste Saida, aber vom Mittelmeer hatte sie nur eine vage Vorstellung. Der Großvater erzählte trotzdem stolz vom guten Geschmack der Hausherrin, wie auch von seinen Fähigkeiten, ihre Wünsche in die Tat umzusetzen.
Als sie die zehn Hölzchen aufs Brett legt, merkt Saida, dass sie vom Pavillon aus beobachtet wird. Nora und Paul liegen mit Büchern in der Hand in ihren Korbstühlen. Die Gräfin hat sie von der unangenehmen Zwangsmittagsruhe mit der Begründung befreit, sie dürften während der Urlaube in Finnland jeden Morgen bis halb neun schlafen. Zwar wehrte sich das schwedische Kindermädchen aufgrund ihrer Erfahrung strikt gegen »Faulenzerei, die im späteren Alter zu allerlei Morallosigkeit führt«, aber die Gräfin wünschte sich dennoch, dass diese Ausnahme gestattet werde und das Kindermädchen »etwas sommerliche Gnade gegenüber den kleinen Urlaubern« walten lasse.
Oma Elin meinte freilich, es ginge dabei eher um die Gnade der Gräfin gegenüber ihren eigenen Nerven, denn es war bekannt, dass sie gern lange schlief und des Morgens oft unter Migräne litt. Die schrillen Schreie der Kinder beim kalten, abhärtenden Morgenbad taten ihr da nicht gerade gut. Dem Kindermädchen blieb nichts anderes übrig, als der Herrin zu gehorchen.
Das Spiel, das bei der Brücke begann, scheint besonders Nora zu interessieren. Sie zwirbelt die braunen Locken unter ihrem Sonnenhut, wirft aber plötzlich das Buch auf den Tisch und geht scheinbar gleichgültig auf die spielenden Kinder zu. Eine Weile schaut sie vom Brückengeländer aus zu, wie die anderen sich verstecken, wie sie Schreie ausstoßen, sobald jemand gefunden wird, und dann um die Wette zum Mittelpunkt des Spiels rennen. Nora sieht und versteht nicht, was dort passiert, und ihre Neugier lässt sie den Wunsch ausrufen, mitmachen zu dürfen.
Die anderen Kinder erstarren. Erstaunt sehen sie sich an. So etwas ist noch nie vorgekommen. Die Kinder des Konsuls spielen immer untereinander oder mit ihren eigenen Gästen. Nach kurzer Beratung wird beschlossen, Nora und Paul zu akzeptieren, aber unter der Bedingung, dass eines der Geschwister bereit ist zu suchen.
Saida und Linda, die Ältesten unter ihnen, erklären die Spielregeln: Am Anfang wird ein Brett auf einem Holzscheit ins Gleichgewicht gebracht. Dann legt man auf einer Seite zehn Hölzchen nebeneinander. Ihr Gewicht drückt eine Seite des Bretts auf den Boden, die andere zeigt nach oben. Ein Mitspieler muss suchen, die anderen verstecken sich. Wenn der Suchende jemanden sieht, rennt er zum Hölzchenbrett, in den Kreis, der auf der Erde markiert worden ist, und ruft den Namen des Gefundenen und dass er ihn gesehen hat. Jetzt muss derjenige, der sich versteckt hatte, sich in den Kreis stellen. Er ist gefangen. Aber jeder andere der Gesuchten kann den Gefangenen befreien, indem er unbemerkt vom Suchenden zu dem Brett läuft und auf die nach oben ragende Seite tritt, worauf die Hölzchen auf der anderen Seite in die Luft fliegen. Dann ist der Gefangene frei und rennt mit seinem Befreier in ein Versteck. Das ist der tollste Moment des Spiels, außer für den, der suchen muss, denn er muss die Hölzchen einsammeln, wieder aufs Brett legen und mit der Suche von vorn beginnen.
Mit der Autorität der großen Schwester bestimmt Nora ihren Bruder als Sucher. Paul macht nur widerwillig mit, er möchte den Pavillon am liebsten gar nicht verlassen, sondern weiter in seinem spannenden Buch lesen. Außerdem hat er Angst vor den Pfauen, die auf dem Gutsgelände und im Park frei umherstolzieren. Er ist davon überzeugt, dass über kurz oder lang ein furchterregendes und zweifellos gefährliches großes Wesen mit spitzem Schnabel aus dem Schatten eines Zierstrauchs treten wird.
Nora ist das Kommandieren offensichtlich gewohnt. Sie akzeptiert das Quengeln und die Einwände ihres kleinen Bruders nicht und nimmt ohne Umstände Arvi an der Hand. Er soll ihr ein gutes Versteck zeigen.
Zwar halten sich die Pfauen von den kreischenden, kreuz und quer durch den Park rennenden Kindern fern, aber Paul wird bald klar, was Arvi, Linda und die Kinder des Gutsverwalters längst wissen: Saida ist bei diesem Spiel unschlagbar. Sie wählt ihre Verstecke
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