Eine eigene Frau
ihn neuerdings nicht einmal mehr, wenn sie ihm im Park des Guts begegnet. Arvi hat sich oft gefragt, ob sie sich noch daran erinnert, was geschah, als sie noch Kinder waren und sich im Brückenkasten versteckt hatten.
Nora hatte immer viel geredet. Sie wusste, dass Arvi der Pflegesohn der Köchin und des Gärtners war, also ein Waisenkind. Das fand sie schrecklich aufregend. Sie hatte im Winter ein wunderbares, zu Tränen rührendes Buch gelesen, in dem ein Waisenjunge, den man sein Leben lang schlecht behandelt hatte, überraschend herausfand, dass sein wirklicher Vater ein reicher Baron war, der anfangs gar nichts von der Existenz des Jungen gewusst hatte, ihn zum Schluss aber zu sich nahm.
Wer weiß, womöglich hat auch Arvi einen vornehmen Aristokraten zum Vater.
Nora, deren Vater nur ein gewöhnlicher Konsul ist, sagte, sie sei geradezu neidisch auf Arvi, weil sich ihm jeden Tag die Wahrheit über seine edle Abstammung enthüllen könne.
Die Nähe des Mädchens und eine solche Sicht der Dinge über seine Herkunft raubten Arvi den Atem. So lange er sich erinnern konnte, hatte man ihn verspottet, weil er Waise war. Schließlich war er zwischen lauter Rüben in der Schubkarre des Gärtners gefunden worden, zugedeckt mit Kohlblättern, Erde zwischen den Zehen.
Vermutlich kam diese Geschichte daher, dass der Säugling ein paarmal tatsächlich von Onkel Olof bei der Arbeit mit der Schubkarre herumgefahren worden war, weil sich sonst niemand gefunden hatte, der sich um ihn kümmerte.
Aber Nora fand es nicht zum Lachen, dass jemand Waise war. Sie drehte seinen Kopf hin und her und sagte, Arvi sehe eigentlich ziemlich genau so aus, wie Graf Gustav Mauritz Armfelt als Junge auf dem Gemälde im Salon. Daher könnte zum Beispiel der derzeitige Graf durchaus sein Vater sein.
Arvi hörte ihr verwirrt zu. Wie konnte der Graf denn sein Vater sein? Der Graf war doch der Mann von Gräfin Nadine. Eine Weile saß das Mädchen still da, aber dann fragte sie, ob Arvi denn nicht wisse, welcher Körperteil die Männer dazu bringe, die schlimmsten Verrücktheiten zu begehen?
Und schon schob sie ihre kühle Hand in Arvis Hose. Er wagte nicht einmal zu atmen. Dann zog Nora die Hand heraus und sagte, in Finnland sei man über viele Dinge offenbar sehr schlecht informiert. Arvi brachte kein Wort mehr heraus. Aber im Nachhinein hatte er sich oft gefragt, woher das Mädchen eigentlich sein Wissen hatte.
Aus Noras spöttischer Miene schließt Arvi, dass sie sich sehr wohl erinnert.
»Das Fräulein weiß doch, dass Bijou eine Stute ist.«
Nora nimmt den Striegel und fängt an, mit langsamen Bewegungen die Kruppe des Pferdes zu bürsten. Das Tier hebt den Schweif, sein Fell erzittert. Noras Parfüm vermischt sich mit den Stallgerüchen. Arvi begibt sich auf die andere Seite des Pferdes, und Nora geht, nachdem sie den Jungen eine Weile geneckt hat, zu ihrem Bruder und den anderen jungen Besuchern zurück. Sie flüstert den Mädchen etwas zu. Alle lachen. Arvi ist sicher, dass es ihm gilt.
Er geht dazu über, Bijou zu satteln. Ohne hinzusehen breitet er die Satteldecke auf dem Rücken des Pferdes aus. Wieder erzittert das Fell, diesmal durch die Berührung des weichen Stoffs. Rasch legt der Junge den Sattel auf die Decke. Die Schnalle des Sattelgurts bleibt irgendwo hängen, und die Decke verrutscht. Das muss korrigiert werden, denn wenn unter dem Sattel auch nur eine Falte bleibt, kann es zu einer Wundscheuerung am Rücken kommen. Energisch zieht Arvi die Satteldecke glatt und den Gurt fest. Er kennt die Angewohnheiten dieses Pferdes. Es bläht den Magen auf, wenn der Sattelgurt angelegt wird. Arvi lässt es seinen Trick machen und zieht den Gurt etwas später noch einmal nach. Jetzt sitzt er richtig. Der Sattel darf nicht rutschen, wenn der General beim Aufsitzen mit seinem ganzen Gewicht den einen Steigbügel belastet.
Arvi nimmt das Halfter ab und schiebt die Kandare hinter die Zähne. Das Pferd beißt leicht zu, akzeptiert dann aber das Gebiss. Der Junge legt den Zügel auf dem Pferdehals bereit.
Er hält einen makellosen Winterapfel auf dem Boxenrand parat und außerdem eine Karotte und zwei Zuckerstücke. Der General wird das Pferd nämlich nicht sofort besteigen. Da er ein echter Pferdemensch ist, wird er zuerst Bekanntschaft mit seinem Reittier schließen. Das hat Arvi berücksichtigt, darum die verschiedenen Leckerbissen; der General kann sie der Stute anbieten, während er sich mit ihr beschäftigt. Alles ist bereit. Es
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