Eine Evatochter (German Edition)
heilige Liebe mit traurigen Fragen; sie begreifen nicht, daß Männer von hohem Verstände und von tiefer Poesie ihre Seele dem Genuß entreißen können, um sie auf einem teuren Altar zu weihen. Und doch, Marie, ist der Kultus des Ideals bei uns leidenschaftlicher als bei Euch: wir finden ihn in der Frau, die ihn in uns nicht mal sucht.«
»Warum dieser Aufsatz?«
»Ich verlasse Frankreich. Morgen wirst du erfahren, warum und wie. Mein Diener wird dir einen Brief bringen. Leb wohl, Marie!«
Raoul drückte die Gräfin mit wilder Gewalt an sein Herz und ging. Sie blieb schmerzbetäubt zurück.
»Was ist Ihnen denn, meine Liebe?« fragte die Marquise von Espard, die sich nach ihr umsah. »Was hat Nathan Ihnen gesagt? Er hat uns in melodramatischer Weise verlassen. Sie sind vielleicht zu verständig, oder zu unverständig?«
Die Gräfin ergriff Frau von Espards Arm und ging mit ihr in den Salon zurück. Kurz darauf verabschiedete sie sich.
»Sie geht vielleicht zu ihrem ersten Stelldichein,« sagte Lady Dudley zu der Marquise.
»Das werde ich erfahren,« entgegnete Frau von Espard. Sie ging gleichfalls und folgte dem Wagen der Gräfin.
Aber das Kupee der Frau von Vandenesse schlug den Weg nach dem Faubourg Saint-Honore ein. Als Frau von Espard umkehrte, sah sie die Gräfin nach dem Faubourg weiterfahren, um nach der Rue de Rocher zu gelangen. Marie legte sich zur Ruhe, fand aber keinen Schlaf und verbrachte die Nacht mit der Lektüre einer Nordpolreise, ohne das mindeste zu verstehen. Um halb neun Uhr erhielt sie einen Brief von Raoul und erbrach ihn hastig. Der Brief begann mit den klassischen Worten:
»Meine teure Geliebte, wenn Du diese Zeilen erhältst, bin ich nicht mehr ...«
Sie las nicht weiter, zerknitterte den Brief mit krampfhafter Nervosität, schellte nach ihrer Kammerzofe, zog hastig ein Morgenkleid an, fuhr in die ersten besten Stiefel, warf einen Schal um und nahm einen Hut. Dann trug sie der Kammerzofe auf, ihrem Gatten zu sagen, sie sei bei ihrer Schwester, Frau du Tillet.
»Wo haben Sie Ihren Herrn verlassen?« fragte sie Raouls Diener.
»Im Zeitungsbureau.«
»Hin,« gebot sie.
Zum großen Erstaunen des ganzen Hauses ging sie um neun Uhr zu Fuß aus, mit sichtbaren Zeichen von Verstörtheit. Zu ihrem Glück sagte die Kammerzofe dem Grafen, die Gnädige hätte einen Brief von Frau du Tillet erhalten, der sie außer Fassung gebracht hätte, und sie wäre zu ihrer Schwester geeilt, in Begleitung des Dieners, der ihr den Brief überbracht hätte. Vandenesse wartete die Rückkehr seiner Frau ab, um Näheres zu erfahren. Die Gräfin nahm eine Droschke und war bald in der Redaktion. Zu dieser Zeit waren die weiten Räume des Zeitungsbureaus leer, das in einem alten Privathaus in der Rue Feydeau lag. Nur ein Bureaudiener war da. Er war sehr erstaunt, als eine junge hübsche Dame ganz verstört durch das Haus gelaufen kam und ihn fragte, wo Herr Nathan sei.
»Er ist jedenfalls bei Fräulein Florine,« antwortete er. Er hielt die Gräfin für eine Nebenbuhlerin, die ihm eine Eifersuchtsszene machen wollte.
»Wo arbeitet er hier?«
»In einem Zimmer, dessen Schlüssel er in der Tasche hat.«
»Ich will hin.«
Der Bureaudiener führte sie nach einem düsteren Stübchen, das auf einen Hinterhof ging. Es war früher ein Ankleidezimmer neben einem großen Schlafzimmer gewesen, dessen Alkoven nicht beseitigt war. Das Stübchen lag seitlich dahinter. Die Gräfin riß das Fenster des Schlafzimmers auf und konnte durch das Fenster des Stübchens sehen, was darin vorging: Nathan saß röchelnd auf seinem Redakteursessel.
»Brechen Sie die Tür auf und halten Sie reinen Mund. Ich will Sie bezahlen,« gebot sie. »Sehen Sie denn nicht, daß Herr Nathan stirbt?«
Der Diener holte aus der Druckerei einen eisernen Rahmen, mit dem er die Tür aufbrechen konnte. Raoul suchte den Tod durch Einatmen von Kohlendampf aus einer Wärmepfanne, wie eine kleine Näherin. Er hatte eben einen Brief an Blondet beendet, worin er ihn bat, seinen Selbstmord als Schlaganfall auszugeben. Die Gräfin kam noch zur Zeit. Sie ließ Raoul in die Droschke tragen, und da sie nicht wußte, wo sie ihn pflegen sollte, fuhr sie nach einem Hotel, nahm ein Zimmer und schickte den Bureaudiener nach einem Arzte. Nach ein paar Stunden war Raoul außer Gefahr, aber die Gräfin wich nicht von seinem Lager, bevor er eine Generalbeichte abgelegt hatte. Nachdem der gestürzte Ehrgeizige ihr die furchtbaren Elegien seines Schmerzes ins Herz
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