Eine ewige Liebe
Niemand konnte sagen, wie es weiterging.Aber eines wusste ich ganz genau.
Ethan hatte jetzt eine Chance.
Alles andere lag bei ihm.
Buch III
Ethan
,
Verlorene Zeit 30.
Kapitel
L. Bist du da? Kannst du mich hören? Ich warte. Ich weiß, dass du das Buch für mich findest.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier ist. Ich komme mir vor wie in einem steinalten Tempel. Oder besser noch, in einer Festung. Du glaubst gar nicht, was für ein Typ hier bei mir ist. Mein Freund Xavier. Zumindest denke ich, dass er mein Freund ist. Er ist ein zehntausend Jahre alter Mönch oder so was.
Stell dir vor, du wartest, ohne dass Zeit vergeht. Minuten fühlen sich an wie Jahrhunderte, wie Ewigkeiten, und das ist umso schlimmer, weil du nicht weißt, wie lange du zum Warten verdammt bist.
Ich ertappe mich dabei, wie ich Sachen zähle. Zwanghaft. Es ist die einzige Möglichkeit, die Zeit einzufangen.
Zweiundsechzig Plastikknöpfe. Elf zerrissene Ketten mit jeweils vierzehn bis sechsunddreißig Perlen. Einhundertneun alte Baseball-Sammelkarten. Neun AA -Batterien. Zwölftausendsiebenhundertvierundfünfzig Dollar und drei Cent in Münzen, aus insgesamt sechs Ländern. Oder vielleicht auch aus sechs Jahrhunderten.
Ganz genau kann ich das nicht sagen.
Ich wusste nämlich nicht, wie ich die Dublonen zählen sollte.
Heute Morgen habe ich gezählt, wie viele Reiskörner aus einer aufgerissenen Naht eines Plüschfrosches rieseln. Ich frage mich, wo Xavier dieses ganze Zeug aufgetrieben hat. Bei neunhundertneunundneunzig habe ich mich verzählt und musste von vorn anfangen.
So habe ich den heutigen Tag verbracht.
Wie gesagt, man kann den Verstand verlieren, wenn man versucht, sich an einem Ort die Zeit zu vertreiben, der ohne Zeit ist. Wenn du das Buch der Monde gefunden hast, dann werde ich das fühlen, L. Ich werde es wissen. Und dann haue ich hier auf der Stelle ab. Ich habe meine Sachen griffbereit, um jederzeit aufzubrechen. Direkt am Eingang der Höhle. Tante Prues Karte. Ein verbeulter Flachmann und eine Tabakdose.
Frag lieber nicht.
Ist es nicht unglaublich, dass dieses Buch uns schon wieder einen Strich durch die Re chnung machen kann? Aber ich weiß, du wirst es finden. Irgendwann. Ganz bestimmt.
Und so lange werde ich warten.
Ich war mir nicht sicher, ob die Zeit schneller oder langsamer verging, wenn ich an Lena dachte.Aber das war auch völlig egal. Ich konnte sowieso nicht aufhören, an sie zu denken. Dabei hatte ich es versucht – ich hatte Schach mit Xaviers gruseligen Figuren gespielt. Ich hatte ihm geholfen, seine Sammlung zu katalogisieren, angefangen von Flaschenverschlüssen über Murmeln bis zu uralten Caster-Folianten. Heute waren die Steine dran. Xavier hortete Hunderte von Steinen, darunter R o hdiamanten so groß wie Erdbeeren, aber auch Quarzklumpen und ganz einfache Felsbrocken.
»Es ist wichtig, alles genau zu dokumentieren«, hatte Xavier erklärt und noch drei Kohlenstücke auf die Liste geschrieben.
Ich starrte auf den Haufen Kieselsteine vor mir. Schotter, würdeAmma dazu sagen. Gerade der richtige Grauton für DeanWilksAuffahrt. Ich fragte mich, wasAmma wohl gerade machte. Und Mom. Die zwei Frauen, die mich großgezogen hatten. Sie waren jetzt in zwei unterschiedlichenWelten – und hier wie dort für mich unerreichbar.
Ich hielt eine Handvoll staubigen Straßenschotter hoch. » Wieso hebst du so etwas auf? Das sind doch nur viele kleine Steinchen.«
Xavier sah mich entsetzt an. »Steine haben Macht. Sie absorbieren die Gefühle der Menschen. Ihre Ängste und auch ihre Erinnerungen.«
Auf die Ängste eines anderen konnte ich gerne verzichten. Ich hatte genug eigene.
Ich holte den schwarzen Stein aus meiner Hosentasche und rieb über die glatte Oberfläche. Er hatte Sulla gehört und war wie eine große Träne geformt, während Lenas Stein runder gewesen war.
»Hier.« Ich zeigte ihn Xavier. »Den kannst du in deine Sammlung aufnehmen.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass ich den Fluss kein zweites Mal überqueren würde. Entweder ich entdeckte einen anderenWeg nach Hause oder ich würde für immer hierbleiben.Woher ich diese Gewissheit hatte, konnte ich selbst nicht genau sagen.
Xavier betrachtete den Stein von allen Seiten. »Behalte ihn, toter Mann. Das ist kein –«
Mehr hörte ich nicht. Mein Blick trübte sich, Xaviers schwarzgraue Lederhaut und der Stein in meiner Hand verschwammen vor meinenAugen und verschmolzen schließlich zu einem einzigen dunklen Schatten.
Sulla
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