Eine ewige Liebe
ertragen.Was hast du gedacht, warum ich mich nur so selten auf eine Überfahrt einlasse?«
» Warum hat er sich verändert? Der Fluss, meine ich.« Ich musste fast zwanghaft die aufgedunsenen Leichen anschauen. »Er … er war doch eben noch ganz anders.«
»Da täuschst du dich. Du konntest es nur nicht sehen. Es gibt eine Menge Dinge, vor denen wir lieber dieAugen verschließen. Das heißt aber nicht, dass sie nicht da sind – auch wenn wir uns das manchmal wünschen.«
»Ich habe es satt, immer alles sehen zu müssen.Als ich noch gelebt habe, war es leichter – ich war so ahnungslos. Das Leben ist einfach an mir vorbeigezogen, ohne dass ich viel davon mitbekommen hätte.«
Charlie nickte. »Ja. Das höre ich oft.«
Das Floß setzte unsanft am anderen Ufer auf.
»Danke, Charlie.«
Er stützte sich auf die Stange und blickte mit seinen unnatürlich blauen, pupillenlosenAugen direkt durch mich hindurch. »Keine Ursache, Kleiner. Ich hoffe, du findest dein Mädchen.«
Ich streckte vorsichtig die Hand aus und kraulte Drag hinter den Ohren. Erleichtert stellte ich fest, dass meine Hand heil blieb.
Der Riesenhund bellte.
»Vielleicht kommt Penny ja zurück«, sagte ich. »Man weiß nie.«
»Meine Chancen stehen ziemlich schlecht.«
Ich sprang ans Ufer. »Kommt darauf an. So betrachtet stehen meine Chancen wahrscheinlich genauso schlecht wie deine.«
»Da könntest du recht haben.Wenn du wirklich dorthin gehst, wohin ich denke …«
Wusste er es?Vielleicht gab es auf dieser Seite des Flusses nur dieses eine Ziel – wobei ich das bezweifelte. Je mehr ich über dieWelt, die ich zu kennen glaubte, und all die anderenWelten, die ich nicht kannte, erfuhr, desto mehr verflochten sich alle losen Fäden miteinander und führten mich gleichzeitig überall- und nirgendwohin.
»Ich will zur HohenWacht.« Ich ging nicht davon aus, dass er es gleich den Bewahrern petzen würde, er konnte ja nicht weg.Außerdem war mir Charlie irgendwie sympathisch. Und wenn ich dieWorte laut aussprach, wurden sie vielleichtWirklichkeit.
»Einfach geradeaus. Du kannst es nicht verfehlen.« Er zeigte in die Ferne. »Aber du musst amTorwächter vorbei.«
»Davon hab ich schon gehört.« Seit ich mitTante Prue bei Obidias gewesen war, ging mir dieser ominöseTorwächter nicht mehr aus dem Kopf.
»Tja, du kannst ihm ausrichten, dass er mir noch Geld schuldet«, sagte Charlie. »Ich werde hier nicht ewig warten.« Er bemerkte meinen Blick und seufzte. »Egal, sag ihm trotzdem schöne Grüße.«
»Du kennst ihn?«
Er nickte. » Wir kennen uns schon seit einer Ewigkeit. Keine Ahnung, wie lange genau – mindestens ein, zwei Leben, schätze ich.«
» Wie ist er denn so?«Wenn ich etwas mehr über diesenTypen wüsste, könnte ich ihn vielleicht gnädig stimmen.
Charlie stieß sich grinsend mit der Stange vom Ufer ab und glitt auf dem Floß zurück auf das Meer von Leichen.
»Ganz anders als ich.«
Ein Stein und eine Krähe 16.
Kapitel
Nachdem ich den Fluss hinter mir gelassen hatte, musste ich feststellen, dass die Straße zum Eingangsportal der Hohen Wa cht keine Straße, sondern ein unwegsamer, gewundener Pfad war. Er führte zwischen zwei hoch aufragenden schwarzen Bergen hindurch, die ein von der Natur geschaffenes To r bildeten, das geheimnisvoller aussah als alles, was ein Sterblicher – oder ein Bewahrer – erschaffen konnte.
Das Gestein war geschliffen glatt und die rasiermesserscharfen Kanten reflektierten das Sonnenlicht wie ein Obsidian. Die Felsspitzen sahen aus wie schwarze Schlitze am Himmel.
Na toll.
DieAussicht, mich durch diese schroffen, zerklüfteten Felsen hindurchzukämpfen, war entmutigend.Was auch immer die Bewahrer hier trieben, sie wollten es vor denAugen anderer verbergen.
Was nicht wirklich eine Überraschung war.
Exu kreiste über mir und schien tatsächlich zu wissen, wo es langging. Ich folgte ihm, den Blick auf seinen wandernden Schatten vor mir gerichtet, und war froh, diesen geheimnisvollenVogel bei mir zu haben. Ich fragte mich, was Lucille von ihm halten würde. Seltsam, wie eine von denAhnen ausgeliehene Krähe mit übernatürlichen Fähigkeiten zum einzigVertrauten werden konnte.
Doch trotz des gefiedertenWegweisers musste ichTante Prues Landkarte zu Rate ziehen. Exu kannte zwar die grobe Richtung, die wir einschlagen mussten, aber er machte immer wieder kleineAbstecher und verschwand aus meinem Blickfeld. Dass die Klippen hoch und der Pfad verschlungen war, stellte zwar für mich, nicht
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