Eine Familie für Julianne
durchbrach damit den Zauber. Sei dankbar dafür, dachte sie. Du willst das hier doch eigentlich gar nicht.
„Stört dich das?“, fragte Julianne, hielt ihn aber weiter fest. Was wohl passierte, wenn ihr Vater jetzt hereinkam?
„Aber nicht doch“, antwortete Kevin. Trotzdem erkannte sie, dass er enttäuscht war. Auch daran, dass er sie losließ.
„Aber ich glaube, dass du das hier nicht wirklich willst.“
Dieser Mann konnte wirklich Gedanken lesen …
„Wie kommst du denn darauf?“
Er lächelte ansatzweise. „Wir haben gerade über deinen Mann gesprochen. Es ist ziemlich offensichtlich, dass du ihn immer noch vermisst. Dass du vermisst, was ihr miteinander hattet. Wahrscheinlich wäre es ziemlich egal gewesen, wer hier neben dir sitzt, oder?“
Zuerst fühlte Julianne sich angegriffen, doch dann wurde ihr klar, dass Kevin sie nicht beleidigen wollte, sondern nur versuchte, sich selbst zu schützen. Was ihre Schuldgefühle nicht gerade verkleinerte.
Wie konnte sie nur so gedankenlos sein, so selbstsüchtig? Wie konnte sie – nur weil sie einsam war und ihre Hormone verrückt spielten – einen warmherzigen, freundlichen Mann so ausnutzen? Aber …
„Du hast recht. Und auch wieder nicht“, antwortete sie schließlich. „Ich habe mich hinreißen lassen, aber ich bin nicht wahllos. Oder so verzweifelt. Glaub mir, ich hätte nicht jeden geküsst.“
Kevin grinste. „Ach ja?“
Eines Tages werde auch ich das Lügen lernen, dachte sie grimmig.
„Und wieso hast du mich geküsst?“, fügte er hinzu.
„Du fragst zu viel“, erwiderte Julianne leichthin, dann wandte sie sich zu der Kiste am Boden. Als sie die Kiste hochhob, sah sie Kevins fragenden Blick.
„Sag jetzt nichts“, warnte sie, dann legte sie die restlichen Sachen uneingepackt in die Schachtel und verließ die Garage.
In einem hatte Julianne sich getäuscht: Die Selbstvorwürfe wegen des Kusses ließen nicht lange auf sich warten, sondern setzten fast sofort ein.
Dad und Kevin waren zum Baumarkt gefahren und hatten Pippa bei ihr gelassen. Die Kleine schlief jetzt nachts immer öfter durch. Diese Nacht hatte Julianne sie nur einmal gegen fünf gehört, aber wie fast immer war Kevin zuerst bei ihr gewesen.
Mit Tränen in den Augen stand Julianne im Wohnzimmer. Sie fühlte sich nutzlos, ziellos, ohne inneren Antrieb. Sicher, sie hatte sich über ein Jahr lang um Robyn und ihren Vater gekümmert, aber war das nicht nur eine Entschuldigung dafür, ihr eigenes Leben zu vernachlässigen? Oder gar zu ignorieren?
Nachdenklich ging sie zur Terrassentür und dachte über Kevins Worte nach, dass nur sie ihr inneres Licht wieder einschalten konnte. Zum ersten Mal überhaupt schaute sie zum Töpferstudio hinüber und spürte dabei so etwas wie ein Kribbeln in den Fingern, einen Drang, kühlen, feuchten Ton unter ihren Händen zu spüren …
Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken. Als sie öffnete und eine große, attraktive ältere Frau vor ihr stand, riss sie überrascht die Augen auf.
„Beth!“, rief sie und machte die Tür weit auf. Die frühere Freundin ihres Vaters umarmte sie herzlich. „Was machst du denn hier?“
„Ich habe deinen Vater auf der Party bei den Sheltons letztens getroffen. Hat er dir nichts erzählt?“
Julianne wollte schon den Kopf schütteln, doch dann überlegte sie es sich anders. „Doch, natürlich. Ich hatte nur ganz vergessen, dass …“
„Ach, Herzchen, du bist eine schlechte Lügnerin.“
„Und eine schreckliche Gastgeberin“, fügte Julianne zerknirscht hinzu. „Komm rein. Dad ist nicht hier, aber er sollte jeden Moment zurück sein. Ich wollte gerade die Kleine wecken.“
„Die Kleine? Ah, Pippa! Darf ich mitkommen? Dein Vater hat uns den ganzen Abend von ihr vorgeschwärmt.“
„Klar, komm mit“, erwiderte Julianne. Was bedeutete Beths Besuch? Sie hatte die Frau erst einmal getroffen, zur Thanksgivingfeier vor einigen Jahren, und sie sofort gemocht. Damals hatte sie gedacht, dass Beth wunderbar zu ihrem Vater passte. Doch dann hatte Beth beschlossen, in die Nähe ihres Sohns und ihrer Enkel nach Virginia zu ziehen, und ihr Vater hatte die Beziehung beendet. Und bereute das noch heute, wie Julianne oft dachte.
Was war also jetzt los?
Als sie das Baby sah, brach Beth sofort in Entzückensrufe aus und nahm die Kleine auf den Arm. „Ich bin dreifache Großmutter, aber ich habe nur Enkel“, erzählte sie. „Natürlich sind die Jungs auch wunderbar, aber so ein kleines Mädchen ist doch
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