Eine fast perfekte Lüge
seinen Aufenthaltsort. Plötzlich zuckte er erschrocken zusammen, als sich eine Hand auf seinen Rücken legte. Dann versetzte ihm jemand überraschend einen harten Stoß. Da seine Hände immer noch auf dem Rücken gefesselt waren und er sich nicht abstützen konnte, fiel er mit dem Gesicht voran hin und biss sich auf die Zunge, als er mit der Stirn hart auf dem Boden aufschlug. Er verspürte einen kurzen, scharfen Schmerz, dann schmeckte er Blut. Weil er immer noch geknebelt war, blieb ihm nichts weiter übrig, als das Blut zu schlucken, wodurch sich seine Übelkeit noch verstärkte.
Als er aufstöhnte, versetzte ihm jemand mit einem gemeinen Auflachen einen brutalen Tritt zwischen die Rippen, sodass er über den Fußboden rollte. Ihm war noch ganz schwindlig vor Schmerz, und daher merkte er kaum, dass sich die Männer entfernten. Gleich darauf fiel in der Nähe eine Tür ins Schloss. Es dauerte ein wenig, bis ihm klar wurde, dass seine Hände nicht mehr gefesselt waren, und schließlich gelang es ihm, sich aufzusetzen. Langsam begann das Blut in seinen tauben Armen und Beinen wieder zu zirkulieren. Schließlich konnte er seinen Arm wieder bewegen. Er riss die Augenbinde ab und zog den Knebel aus dem Mund. Hinter seiner Stirn hämmerte es, und seine Rippen taten höllisch weh, aber immerhin war er jetzt zum ersten Mal ungefesselt und allein. Mit diesem Wissen brach sich aber auch seine Verzweiflung Bahn. Seine Mutter war tot. Trotz ihrer Schwäche und Oberflächlichkeit war Felicity doch seine Mutter gewesen. Und Declyn, auch wenn er arrogant und tyrannisch gewesen war, sein Großvater. Und er, Evan, hatte mit ansehen müssen, wie sie gestorben waren. Jetzt war außer ihm von ihrer Familie nur noch Tante Macie übrig. An seinen Vater, den er nie kennen gelernt hatte, wagte er nicht zu denken, und erst recht wagte er es nicht, auf ihn zu zählen.
Verzweifelt gegen Schmerz und Übelkeit ankämpfend, versuchte er mühsam sich aufzurappeln. Als er endlich auf den Beinen stand, schaute er sich zum ersten Mal um.
Der Raum, in dem er sich befand, war klein und wirkte, als ob er von einem größeren abgetrennt worden wäre. Die Decke war gewölbt, wie die einer Höhle, doch die Konstruktion war offenbar aus einer Art Wellblech. Auf der einen Seite gab es eine winzige Zelle, die ein noch winzigeres Waschbecken sowie ein durchdringend nach Urin stinkendes Klo beherbergte. Nachdem er sich erleichtert hatte, versuchte er sich im Waschbecken die Hände zu waschen, aber alles, was aus dem Wasserhahn herauskam, war eine fette schwarze Kakerlake. Angewidert schrak er zurück, dann taumelte er aus der winzigen Zelle hin zu einem mit Brettern vernagelten Fenster. In der Hoffnung, einen Blick auf etwas zu erhaschen, das ihm Aufschluss über seinen Aufenthaltsort geben könnte, versuchte er, durch die Ritzen der Bretter zu spähen, doch er sah nur einen schwachen Lichtschimmer. Vorsichtig schob er seine Finger in den schmalen Spalt, biss die Zähne zusammen und zerrte mit aller Kraft. Doch es tat sich absolut nichts. Er versuchte es erneut, indem er die Finger noch weiter in den schmalen Spalt schob und mit all seiner verbliebenen Kraft zerrte. Seine Finger waren immer noch ein wenig taub, da die Blutzirkulation noch nicht richtig in Gang gekommen war, und die Muskeln in seinen Armen waren steif und schmerzten, aber er musste zumindest versuchen, dieser stinkenden Hölle zu entkommen.
Er spannte die Muskeln an und zerrte wieder mit aller Kraft, bis ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach und in die Augen lief. Das Brennen war fast angenehm, weil es ihn daran erinnerte, dass er noch lebte, und wo Leben war, da war Hoffnung. Seine Fingerspitzen fingen an zu brennen, und gleich darauf verlagerte sich der Schmerz unter seine Fingernägel. Ohne zu wissen, was er tat, riss er so gewaltsam an dem Brett, dass sich seine Fingernägel von der darunter liegenden Haut abzulösen begannen. Erst als ihn ein heftiger Schmerz durchzuckte, ließ er los. In dem Moment, in dem seine Finger wegrutschten und er zurücktaumelte, schrammten seine Fingerspitzen über das Holz, wobei sich Holzsplitter unter seine Nägel schoben.
„Gott“, stöhnte er und ging vor Schmerz in die Knie.
Er schaute auf seine Hände und hielt nach den Splittern Ausschau, die kaum sichtbar in seiner Haut steckten. Als er die Blutstropfen sah, die unter seinen Fingernägeln hervorsickerten, begann er zu zittern. Und endlich kamen auch die schon lange überfälligen Tränen –
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