Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
musst.«
Einundzwanzig
Leighton Crescent, Tufnell Park
D as Haus der Familie Harkness war eine ausladende, kastenförmige Villa in Tufnell Park, Teil eines dicht bebauten Viertels, das vor rund zehn Jahren entstanden war. Wie sie da so nebeneinanderstanden, erinnerten Mary die Häuser sehr an eine Reihe Zähne, die man auf ein Feld gestellt hatte. Trotz der Aussicht auf ein Abenteuer und neue Erkenntnisse war sie ziemlich erschlagen. Und selbst nach einer großen Dosis Weidenrindenpulver wurden ihre Kopfschmerzen immer stärker und pochten im Takt mit ihren Schritten gegen ihre Schläfen. Ihr Mund war trocken, ihre Zunge dick. Entweder wurde sie krank oder das waren die Auswirkungen von zu viel Alkohol. Vielleicht hatte Harkness mit seinem Predigen von Abstinenz ja doch irgendwie recht.
Sie zog die Kappe tiefer über die Augen und nahm das Haus vor ihnen in Augenschein. Trotz der erst hereinbrechenden Dämmerung, denn es war noch nicht mal acht Uhr, war das Haus hell erleuchtet wie für eine große Feier. Vor dem Haus am Straßenrandstanden säuberlich aufgereiht einige Kutschen. Die Vorhänge im ersten Stock waren noch offen und Damen und Herren in abendlicher Garderobe gingen hinter den großen Fenstern auf und ab. Während Mary an dem Haus vorbeischlenderte, fuhr erneut eine Kutsche vor und spuckte eine Mutter mit ihrer Tochter aus, beide von eher stämmiger Gestalt. Sie sahen sich erstaunlich ähnlich, von den hervortretenden Augen bis zu ihren juwelenbesetzten Seidenschuhen. Obwohl es bei Weitem nicht kühl geworden war, trugen beide Pelzstolen um den Hals, deren Fell in der feuchtschwülen Luft etwas welk herabhing.
Die Mutter betrachtete das Haus stirnrunzelnd. »Nun gut, ich sage mal, von der Größe her kann man nichts bemängeln – aber meine Liebe! Die Lage!«
Mary blieb stehen und sah zu, wie ein Lakai die Tür öffnete. Die Diele leuchtete im Licht der Gaslampen auf, und sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf blank polierten Zierrat, dann wurde die Tür wieder geschlossen. Sie ging jetzt schneller, lief bis zur Straßenecke und verschwand in der Gasse, die hinter den Häusern entlanglief. Selbst wenn sie nicht gewusst hätte, welches Haus der Familie Harkness gehörte, wäre es leicht an der Beleuchtung zu erkennen gewesen.
Das Summen angeregter Gespräche drang aus den Fenstern der ersten Etage, akzentuiert von bellendem männlichen Gelächter und einem gelegentlichen schrillen Aufschrei. Bisweilen wurde das alles fast übertönt vom Getöse der Dienerschaft im Erdgeschoss.Als Mary stehen blieb, vernahm sie, wie Geschirr zu Bruch ging, dann einen bestürzten Aufschrei, gefolgt von einer unschönen Schimpftirade und danach unweigerlich das Jammern einer weiblichen Person, die geschlagen wurde. Mary war jetzt ganz in der Nähe der Stallungen, aus denen Wiehern und das Rascheln von Stroh drangen und das unbekümmerte Pfeifen eines Mannes, der sich dort zu schaffen machte. Er hatte bei Weitem die angenehmste Arbeit des Abends. Die Atmosphäre im Haus war eindeutig angespannt; das konnte sie sogar von außen feststellen.
Das Durcheinander und der Lärm waren von Vorteil für sie. Sie hatte sich Sorgen gemacht, wie sie ohne Dietrich oder Nachschlüssel ins Haus kommen würde, denn normalerweise achtete jedermann sorgsam darauf, Türen und Fenster gut verschlossen zu halten. Aber heute ließ sich das erste Fenster, an dem sie es versuchte, ganz leicht nach oben schieben, und schon befand sie sich in dem dunklen Frühstückszimmer. Die Tür stand einen Spalt offen, und auf dem Flur trampelten Füße schnell und mit weniger Diskretion auf und ab, als wünschenswert erschien.
Schön und gut, dachte Mary, die sich hinter die Tür gekauert hatte, aber wenn die Diener nicht aufhörten vorbeizuhuschen, würde sie nie in der Lage sein, das Frühstückszimmer zu verlassen. Die Uhr auf dem Kaminsims, ein üppig verziertes Teil, zeigte, wie die Minuten vorbeitickten. Fünf. Zehn. Eine Viertelstunde. Dann entstand eine andersgeartete Unruheim Treppenhaus in der Nähe der Eingangsdiele: Die Gäste begaben sich zu Tisch. Weitere fünf Minuten, dann sah Mary durch den Türspalt zwei Lakaien, die Suppenschüsseln trugen. Als sich die Türen zum Speisezimmer schlossen, wagte Mary einen Blick in den Flur. Leer. Jetzt würde sie etwas Zeit haben, bevor der Fischgang serviert wurde.
Die Flure waren halbhoch mit dunklem Holz getäfelt, die Tapete darüber hatte ein verblichenes Blumenmuster, das im Schein der
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