Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Gaslampen seltsam grünbraun wirkte. Was sie bisher gesehen hatte, zeugte von einer Vorliebe für Opulenz: ein Frühstückstisch und Stühle aus geschnitztem Rosenholz, ein riesiger, mehrstufiger Kronleuchter in der Diele, Wände, die dicht mit goldgerahmten Gemälden behängt waren. Mary staunte, als sie eine Rüstung entdeckte – eine richtige Ritterrüstung! –, die neben einer breiten Treppe Wache hielt. Alles widersprach der so puritanischen Haltung, die Harkness auf der Baustelle vertrat. Mit großen Augen ging Mary weiter.
Zum Glück gab es in dieser Art von Haus nicht so viele Stellen, wo sich das Büro befinden konnte. Es musste doch
hier
sein.
Der Türknopf ließ sich leicht drehen, und gerade noch im richtigen Augenblick. Sie hörte jemanden halb schlurfend, halb eilend herankommen. Wahrscheinlich ein Diener, der etwas holte oder brachte. Rasch schlüpfte sie in das Zimmer, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um. Ihre Augen mussten sich eine Weile an das Dämmerlicht gewöhnen undin diesen Sekunden erinnerte sie sich plötzlich lebhaft an ihre erste Begegnung mit James. Im Dunkeln. In einem Büro. In einem Schrank. Sie fröstelte etwas, das Zimmer kam ihr plötzlich kühl vor. Aber ihre Kopfschmerzen ließen allmählich nach.
Sie hatte eine Kerze und eine Schachtel Streichhölzer in der Tasche. Auch wenn die kleine Flamme mickrig schien nach der Festbeleuchtung im übrigen Haus, reichte sie aus. Und als die Einzelheiten des Zimmers sichtbar wurden, erschrak sie sehr. Sie hatte ein Arbeitszimmer erwartet, das zum übrigen Haus passte; ein Gemisch aus den teuersten und erdrückendsten Möbeln, die zu haben waren. Was sie stattdessen sah, war ein Zimmer, so schmucklos wie eine Mönchszelle. Kein Orientteppich, keine Tapete, keine Vasen oder kleinen Skulpturen oder Gemälde. Nur ein breiter, ziemlich abgenutzter Schreibtisch und ein paar Aktenschränke, die nicht einmal zusammenpassten. Es gab nichts, was den Raum annehmlich machte, nicht mal ein Kissen auf dem Stuhl.
Harkness’ Büro auf der Baustelle bestand aus einem Haufen unordentlicher Akten, die sich über das gesamte Mobiliar ausbreiteten. Hier lag die neueste Ausgabe der
Times
säuberlich gefaltet auf dem Schreibtisch, ansonsten waren keine Unterlagen zu sehen. Mary fröstelte erneut.
Während sie sich noch verwundert umsah, stellte sie fest, dass es in der Tat das Zimmer von Harkness sein musste. Es war das Büro eines Mannes, der auf Wein verzichtete, der unbeholfen sein Bestes versuchte,seine Arbeiter ebenfalls dazu zu bewegen (ob sie das wollten oder nicht), der auch wollte, dass Mark Quinn eine Chance bekam. Die Schreibunterlage auf dem Tisch war mit den schwarz-weißen Dreiecken bedeckt, Reihe um Reihe, Zeugnis der nervösen Kargheit des Mannes, der hier arbeitete. Verwundert stand sie da und sah sich ein paar Minuten in dem Zimmer um. Dann hörte sie am anderen Ende des Ganges, wie die Tür zum Speisezimmer geöffnet und das Gemurmel laut wurde. Trotz der angeberischen Holzverkleidung waren die Wände in diesem Haus dünn.
Gut. Sie musste anfangen. Als Erstes löste sie den Fensterriegel, für den Fall, dass sie sich schnell aus dem Staub machen musste. Dann zögerte sie auf einmal. Irgendwie war es ihr nicht recht, in Harkness’ Aktenschränken herumzuspionieren und seine persönliche Korrespondenz zu durchstöbern. Es war nicht das erste Mal, dass sie solche Vorbehalte verspürte: Das Herumschnüffeln hatte sie schon früher belastet, aber es war ihr immer gelungen, es zu rechtfertigen, weil sie versuchte, das Richtige zu tun, die Wahrheit aufzudecken. Aber an diesem Abend in dieser traurigen, kargen Zelle überkamen sie plötzlich Zweifel.
Nicht, weil sie Harkness für untadelig hielt. Er hatte auf jeden Fall etwas mit Keenan und Reid zu tun, und wenn er versuchte, deren Diebstähle zu unterbinden, dann war er auf eine sehr seltsame Methode verfallen. Es war viel wahrscheinlicher, dass er mit ihnen zusammenarbeitete. Aber dieses Büro hatte etwas Tragischesan sich. Mary hatte das Gefühl, auf ein bedrückendes persönliches Geheimnis gestoßen zu sein, indem sie das Zimmer betreten hatte.
Nun war sie jedoch hier und das war ihre Aufgabe. Die Schubfächer im Schreibtisch glitten sanft heraus, was sie einigermaßen überraschte, weil sie so alt waren und selten benutzt schienen. Die oberste Schublade enthielt das Übliche: Stifte, Löschpapier, ein Tintenfass auf Vorrat, Lineale, Reißschienen und Winkelmesser –
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