Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Harkness kritzelt sie immer vor sich hin, wenn er mit einem Bleistift in der Hand nachdenkt. Das ganze Rechnungsbuch ist damit bedeckt, andere Papiere auch, und nun das hier. Dieser Umschlag beweist, dass er mit den Diebstählen der Maurer was zu tun hat.«
»Reid hat den Umschlag vielleicht entwendet.«
»Was soll Reid denn mit einem alten Umschlag anfangen? Nein, nein. Betrachte es mal von der anderen Seite: Wenn Harkness in die Geschichte verwickelt ist, erklärt das, wie die Maurer so lange so viel klauen konnten.«
Sie schwieg. Das Gekritzel auf dem Umschlag bewies zumindest, dass Reid ihn von Harkness bekommen hatte. Es war keine Lohntüte, das konnte also ausgeschlossen werden. Und es war ein feiner Briefumschlag – viel zu klein, um zum Beispiel Bauzeichnungen zu enthalten. Sie strich den Umschlag mit den Fingern glatt. Er war nicht adressiert oder abgestempelt worden – was ja logisch war, denn wer würde Informationen über rechtswidrige Vorgänge schon der Post anvertrauen?
Während sie das Beweisstück noch betrachtete, stieg eine andere Befürchtung in ihr auf. Wenn sich Reid und Keenan am Nachmittag ausgesöhnt hatten, würde Keenan jetzt wissen, dass auch sie von ihren Machenschaften wusste. Und selbst wenn Reid und Keenan noch über Kreuz waren, dann hatte Keenan Reid die Information womöglich entlockt. Mary bezweifelte nicht, dass er rabiat genug war, um auf seinen Freund und Kollegen loszugehen, sogar mit Gewalt, um sein Ziel zu erreichen. In beiden Fällen war jetzt ein gefährlich aufgebrachter Mann hinter ihr her. Und diesmal würde Harkness nicht in der Nähe sein, um sie zu retten.
Sie fröstelte. Sie war selbst daran schuld. Sie mitihrem törichten, übertrieben selbstbewussten Gehabe. Sie hätte niemals versuchen dürfen, Reid in die Ecke zu drängen. Was war nur in sie gefahren? Ihre innere Stimme gab ihr sofort die Antwort: der Entschluss, in das Pub zu gehen. Das Bier hatte sie mutig gemacht, und der umgängliche Ton hatte sie dazu verführt, Dinge zu sagen, die sie auf der Baustelle nie zu sagen gewagt hätte. Was hatte sie da angestellt?
»Was ist los?« James’ Stimme war scharf vor Besorgnis.
Sie schüttelte den Kopf.
»Sag es, Mary. Du musst es mir sagen.«
»Ich muss?« Aha: die autoritäre Seite seines Charakters. Die hatte sie fast vergessen.
»Ja, du ›musst‹. Die Dinge zwischen uns stehen jetzt anders.« Er ergriff ihre Hände und schüttelte sie sanft. »Das wissen wir doch beide.«
Sie sah ihm kurz in die Augen und ihr Ausdruck ließ sie beben. Sie war freudig, selig, entsetzt und einen Augenblick später völlig verzweifelt. Nur ihre Gefühle waren echt: Alles andere zwischen ihr und James beruhte auf einer Lüge. Und sie würde nie in der Lage sein, ihm die Wahrheit über sich zu erzählen. Nicht, ohne die Agentur zu verraten und die Frauen, die ihr das Leben gerettet hatten und denen sie alles zu verdanken hatte.
»Mary!«
Wieder ihr Name auf seinen Lippen. Am liebsten hätte sie geweint, aber das konnte sie sich nicht leisten. Stattdessen holte sie tief Luft, nickte und erzählteihm von ihrer Begegnung mit Reid. So viel konnte sie ja verraten. Als sie fertig war, warf sie ihm einen Blick zu und sah darin die Anteilnahme – nein, die Besorgnis.
»Das müssen wir der Polizei melden.«
»Was müssen wir melden? Dass ich jemandem Diebstahl vorgeworfen habe?«
»Dass ein gewalttätig veranlagter Mann, den wir stark im Verdacht haben, hinter den Diebstählen zu stecken, einen Grund haben könnte, dir etwas anzutun. Du bist doch viel zu klug, um nicht zu sehen, dass Keenan alles, was Reid weiß, auch bald wissen wird.«
»Da kann doch die Polizei nichts machen. Was schlägst du vor – dass mich ein Bobby am Montag auf die Baustelle begleitet?«
Er presste die Lippen zusammen. »Du gehst am Montag nicht auf die Baustelle.«
»Da: schon wieder!«
»Was?« Er sah sie ehrlich verblüfft an.
»Du kommandierst mich herum, als sei ich ein beschränktes Kind.«
»Ich halte dich keineswegs für beschränkt und schon gar nicht für ein Kind.«
»Aber du hast mir gerade befohlen, was ich tun soll.«
»Ich habe dir nur gesagt, was die
vernünftige
Reaktion wäre.«
»Genau das ist es doch – du
sagst es mir
!« War das der Streit zwischen zwei Liebenden, obwohl sie dochgar keine Liebenden waren? Es sah so aus. »Du hast kein Recht, für mich Entscheidungen zu treffen.«
Er spannte den Kiefer an. »Es geht hier doch nicht um Recht; es geht um
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