Eine Feder aus Stein
Stimme war warm, ihre braunen Augen sahen ihn wissend an. Sie hatte einen leichten jamaikanischen Akzent, der sich wie ein Singsang anhörte.
»Ja«, erwiderte Luc kurz angebunden.
»Dann müssen Sie vorsichtig sein, guter Mann«, sagte sie ernst.
»Ja«, wiederholte er und ging.
7
Er hatte den Eindruck, als sei es schon Jahre her, dass Clio ihn hierher mitgenommen hatte. Luc lehnte sich gegen den breiten Stamm der Virginia-Eiche und blickte in die Kuhle, die die dicken Wurzeln unter ihm formten. Dort hatten er und Clio beieinandergelegen, vor allen Vorübergehenden verborgen.
Jetzt stieg er über die Wurzeln und legte seinen kleinen Ledersack auf den Boden. Er wünschte, er wäre … in Afrika. Oder sonst irgendwo weit weg. Wo er nichts mit Daedalus oder irgendjemandem aus der Treize zu tun haben musste.
Doch dann würde ihn Daedalus einfach mit Gewalt herbeirufen. Er verzog das Gesicht. Claire kochte innerlich, da gab es keinen Zweifel. Den letzten Abend hatte sie hauptsächlich damit verbracht, sich alle erdenklichen Methoden auszumalen, mit denen man Daedalus umbringen könnte. Ziemlich lustig. Doch bei der Göttin, sie und Richard auf einmal … Sie waren beide so bitter, so verhärtet. Das wurde ihm irgendwann einfach zu viel. Dabei hätten sie alle Grund gehabt, so zu empfinden. Jeder aus der Treize. Doch nach ein paar Stunden des Zusammenseins mit den beiden hatte sich Luc gefühlt, als habe man ihn in Essig getaucht und mit Sandpapier abgerubbelt. Es war eine Erleichterung gewesen, sie endlich allein zu lassen.
Luc hörte Stimmen. Wahrscheinlich irgendwelche Studenten aus Loyola oder Tulane. Er legte sich hin und ließ sich in die warme, trockene Erde sinken. Jetzt hätte man schon genau über ihm stehen müssen, um ihn zu sehen. Auf dem Rücken liegend, blickte er durch die Blätter auf die Puzzleteile eines bewölkten Himmels.
Clio. Clio und Thais. Wie gewöhnlich bereitete ihm der Gedanke an Thais Bauchschmerzen und ließ ihn die Zähne zusammenbeißen. Ihre Anmut, ihr hingebungsvolles Wesen. Er war überrascht gewesen, dass sie immer noch so wütend auf ihn war, so feindselig. Bei der Récolte hatte sie sich kalt und unnachgiebig gezeigt, zumindest bis zur Hälfte dieses unseligen Zirkels, als man ihnen die Gefühle aus dem Leib gerissen, sie sinnlos geopfert hatte. Da hatte er sie gefühlt. Die tiefe, machtvolle Liebe, die sie für ihn empfand. Ihre Qual und ihren Ärger. Und wieder ihre Liebe. Thais war sehr viel stärker, als er es für möglich gehalten hätte.
Und nun ging sie mit diesem Jungen aus, diesem dummen Jungen, küsste ihn, schlang die Arme um ihn. Wenn Luc böse wäre, wirklich richtig schonungslos böse, dann hätte dieser Junge inzwischen schon einen Autounfall gehabt.
Nur gut, dass er so böse nicht war.
Er richtete sich auf und packte seine Hilfsmittel aus. Mit einem Stock malte er einen Kreis um sich herum in die Erde und legte dann vier Steine in die vier Himmelsrichtungen. Das hier war schon böse genug. So tief war bislang nicht mal er gesunken. Er ging schon jetzt weiter, als er je vermutet hätte. Vor zehn oder auch nur fünf Jahren hätte ihn nichts von alledem gekümmert. Aber da war irgendetwas an den Zwillingen … eine Verletzlichkeit, gepaart mit einer unglaublich faszinierenden Stärke. Er hatte noch nie so intensiv für jemanden empfunden. Oder? Er runzelte die Stirn, versuchte, sich zu erinnern. Auf seine Art hatte er Ouida geliebt. Und über die Jahre, Jahrhunderte, hatte er sich natürlich auch in andere Frauen verliebt. Doch wer war ihm je so nahe gekommen? Wer hatte je einen so tiefen Hunger in ihm geweckt? Irgendjemand? Er konnte sich nicht erinnern.
Gleich würde die Sonne untergehen. Luc setzte sich in die Mitte des Kreises, schloss die Augen und ließ sich in eine Trance sinken. Wolke im Himmel, Blatt vom Baum, komm zu mir durch Zeit und Raum. Ich zieh dich an mit meinem Sein, Clio, ich weiß, du bist nah, ich weiß, du bist mein.
Da. Er hatte es in die Welt ausgesandt. Er fühlte, wie es aus ihm herausfloss und auf direktem Weg die anpeilte, die er angerufen hatte. In gewissem Sinne ähnelte sein Zauber dem, was Daedalus getan hatte, aber in einem sehr viel kleineren Rahmen. Wenn sich Clio auch nur achtzig Kilometer weit weg aufhielt, würde sie schon nichts mehr fühlen. Daedalus’ Zauber hingegen war bis zur anderen Seite der Welt vorgedrungen. Außerdem konnte Clio seiner Magie widerstehen, wenn sie wollte, wenn sie stark genug war. Einfach so
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