Eine Feder aus Stein
ausgiebig und kalt zu duschen. Ich hörte Nans Radio in der Küche dudeln und vermutete, sie und Thais waren immer noch dabei, die Reste des Abendessens wegzuräumen. Thais hatte nachher noch ein Date mit Kevin.
Ich wünschte, sie würde ihn wirklich lieben. Wenn es so wäre, wenn sie wirklich über Luc hinweg wäre, dann …
»Hey.«
Ich zuckte zusammen. Ich hatte nicht erwartet, Thais auf meinem Bett liegend vorzufinden. Hatte sie Lucs Beschwörungszauber etwa auch gefühlt?
»Hey«, sagte ich, legte meine Tasche ab und kickte mir die Schuhe von den Füßen. Ich freute mich, dass ich Luc getreten hatte. Eigentlich hätte ich es noch fester tun sollen. In der Hoffnung, dadurch einigermaßen normal zu wirken, atmete ich theatralisch auf. »Na, brauchst du eine Modeberatung vor deinem Date?«
Ich raffte mein Haar zusammen, steckte es mit einer Spange fest und versuchte, unbekümmert und fröhlich auszusehen. Doch Thais betrachtete mich eingehend und ein ernster Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Auf unserem Gesicht. »Was ist?«, fragte ich.
»Also, wessen Energie willst du unterwandern?«
In Büchern sprechen sie in solchen Momenten immer davon, wie »alles Blut aus ihrem Gesicht wich«, oder irgendwas in der Art. Aber diesmal konnte ich tatsächlich fühlen, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich und ich kalt und klamm wurde. Dies war so weit weg von allem, was ich erwartet hatte, dass ich mich auf meinen Schreibtischstuhl setzen musste. Oh gute Göttin, ich könnte gerade richtig in der Patsche sitzen.
»Wie meinst du das?«
Sie warf mir einen Oh-Bitte- Blick zu. »Ich will wissen, wieso du Hermann Parfittes Buch unter deiner Matratze versteckt hast. Was willst du damit?«
Ungefähr eine Minute lang sah ich sie einfach nur an und versuchte abzuwägen, was jetzt am besten zu tun war. Alles abzustreiten schied wohl aus. All die furchterregenden Gefühle der Nacht, in der ich den Zauber ausprobiert hatte, stiegen wieder in mir auf. Ich wollte wirklich nicht darüber reden.
Aber.
Sie war meine Schwester. Stimmte es, was Luc (der Bastard) über uns gesagt hatte? Dass Thais und ich zusammen ein Ganzes ergaben? War Thais alles, was ich an mir selbst unterdrückte, und umgekehrt?
»Nun«, begann ich. Dann stürmte alles auf einmal auf mich herein: Dass ich Luc gerade eben gesehen hatte und erst gestern quasi Sex mit Richard gehabt hatte, dass ich die Katzen mit einem Zauber belegt hatte … Ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und blinzelte.
»Clio«, sagte Thais sanft. »Sag mir einfach, was los ist.«
»Du darfst es Nan nicht erzählen.« Ich fühlte mich vollkommen fertig.
»Na danke, das ist mir auch klar.«
Ich sah sie an, wobei ich immer mehr Tränen zurückblinzelte. »Es ist … wichtig. Das muss zwischen dir und mir bleiben.«
Thais lächelte mich an. Wie seltsam … Es war ein so altes, weises Lächeln. Für einen kurzen Moment war sie nicht mehr Thais, sondern jemand anderes, jemand sehr viel Älteres. Als ich erneut blinzelte, war sie wieder ganz sie selbst. Ich musste es mir eingebildet haben.
»A lles bleibt zwischen dir und mir«, erwiderte sie.
Ich nickte und atmete ein paarmal tief aus. »Ich habe das Buch …«, sagte ich so leise, dass ich es selbst kaum hören konnte, »… aus dem abgesperrten Bereich im Botanika .«
»Und wieso bist du da hin?«
»Weil ich neugierig bin«, antwortete ich. »Daedalus ist es bei der Récolte gelungen, uns unsere Kräfte wegzunehmen, und ich wollte wissen, wie er das gemacht hat.« Ich wollte gerade loslegen und Thais erzählen, wie ich den Zauber ausprobiert hatte und wie entsetzt ich über das gewesen war, was ich den Katzen angetan hatte. Welche Erleichterung, einfach mit allem herauszuplatzen, meiner Zwillingsschwester alles zu erzählen! Doch es war wie bei einem Zug, der sich gerade einem Knotenpunkt näherte. Eigentlich hatte ich mich schon für einen Weg entschieden, doch dann wurden die Weichen verstellt, und plötzlich befand ich mich auf einer ganz anderen Strecke.
»Ich dachte, wenn ich erst herausgefunden habe, wie er das angestellt hat, könnte ich ihn davon abhalten, uns das noch einmal anzutun.« Völlig richtig.
Thais runzelte die Stirn. Sie blickte aus meinem Fenster auf die Krone eines Mimosenbaums in unserem Vorgarten. Seine Blätter hatten gerade angefangen, sich gelb zu färben, und leuchteten im Licht der Straßenlaterne. Bald würden sie abfallen. Einer der wenigen Bäume, die sich mit den Jahreszeiten
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