Eine Feder aus Stein
einen eine gewisse Lässigkeit, die etwas Attraktives hatte. Als wäre es nach so vielen heißen Monaten zu anstrengend, konventionelle Verhaltensweisen aufrechtzuerhalten. Man wurde auf eine andere Ebene katapultiert, eine Ebene, wo man sich anders verhielt, anders dachte, weiter ging als sonst und mehr wagte.
Sophie lächelte leicht. 1983 hatte sie eine Dissertation zu diesem Thema verfasst und es faszinierte sie noch immer. Sie hatte die Arbeit Ouida gezeigt, oder nicht? Und Ouida hatte bestimmt ihren Spaß daran gehabt.
Als sie aufblickte, sah Sophie das pinke Haus, die Adresse, die sie in Erinnerung gehabt hatte. Sie hielt auf die rechte Seite zu, wo sich die Auffahrt mit den zersplitterten Austernschalen befand. Jules hätte sich jedes Haus leisten können, das er wollte – sie alle konnten das. Nach zweihundert Jahren hatte sich selbst die unbesonnenste Investition bezahlt gemacht. Jeder von ihnen war wohlhabend, hätte nie wieder arbeiten müssen. Doch die Erfahrung hatte gezeigt, dass einen genau dieses Fehlen von Zielen in den Wahnsinn treiben konnte. Um gesund zu bleiben, brauchten sie Beschäftigung, eine Arbeit, Interessen und Verantwortung.
Sie wünschte, Richard würde das zugeben und sein Leben endlich wieder in den Griff bekommen. Und Luc ebenso.
Sie presste kurz die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Hier war es, das erste Apartment. Während sie läutete, fühlte sie Jules’ Anwesenheit in der Wohnung. Er öffnete die Tür und lächelte, als er sie sah.
»Salut, Jules«, sagte sie.
»Komm herein, petite «, erwiderte er und hielt ihr die Tür auf.
Die Wohnung war in ein trübes Licht getaucht, denn die Fenster gingen nach Osten hinaus und es dämmerte bereits. Die Möblierung war schlecht zusammengestellt, doch alles war peinlich sauber und aufgeräumt.
»Möchtest du etwas trinken? Einen Sherry?«
»Oh ja, bitte. Wunderbar.« Sophie ließ sich auf dem Sofa nieder und merkte, wie sie sich zum ersten Mal seit Tagen entspannte. Axelle hatte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit Jules gesprochen – sie schien zu denken, seine Loyalität für Daedalus würde sein Urteilsvermögen außer Kraft setzen. Doch da war sich Sophie nicht so sicher.
Jules kam mit zwei kleinen zierlichen Gläsern Sherry zu ihr herüber. Sophie atmete den warmen, intensiven, etwas holzigen Duft ein. Sie nahm einen Schluck und ließ die Flüssigkeit ihre Kehle hinunterrinnen.
»Ich wollte mit dir reden«, sagte sie und dachte wieder, wie sehr ihr die warme Aufrichtigkeit in seinen Augen gefiel.
Das Geräusch des zuschlagenden Fliegengitters unterbrach sie. Sophies Augen weiteten sich, als Claire aus dem hinteren Schlafzimmer durch die Küche zu ihnen ins Wohnzimmer geschlurft kam. Daedalus’ Beschwörungszauber hatte also funktioniert. Natürlich. Und Claire wohnte bei Jules. Wie überaus unangenehm.
»Oh, hallo, Sophie«, sagte Claire. Sie trug eine Caprihose mit Hawaii-Muster und ein rotes Spaghettiträger-Top. Ihre Plastik-Flipflops mit den großen roten Blumen auf den Zehen sahen auf dem dunklen zerkratzen Holzboden aus, als würden sie leuchten.
»Hallo, Claire«, erwiderte Sophie höflich. Ihre Mission musste wohl noch ein wenig warten. Claires grüne Augen musterten sie scharf, scannten sie vom Scheitel bis zur Sohle ab.
Sophie wartete und wünschte, sie wäre nie gekommen, obwohl sie Claire früher oder später sowieso begegnet wäre. Claire war eine von ihnen, genau wie sie selbst. Eine der Treize. Schon als sie acht und Claire neun Jahre alt gewesen war, hatten sie beide sich nicht verstanden. Schon damals waren sie das komplette Gegenteil voneinander gewesen und auch 250 Jahre hatten daran nichts ändern können.
»Nun, du bist nicht einen Tag gealtert«, sagte Claire grinsend. Sie setzte sich in einen Schaukelstuhl gegenüber vom Sofa.
Du leider auch nicht, dachte Sophie und quittierte Claires platten Witz mit der Andeutung eines Lächelns.
»Was haste denn da? Sherry? Wie wär’s mit einem kleinen coup für mich, hm, Jules?«
Jules erhob sich und ging zu der kleinen Küchenzeile. Sophie nahm einen Schluck und versuchte, ihr Glas schnell auszutrinken, damit sie sich verabschieden konnte.
»Wie ich höre, bist du immer noch mit Manon zusammen.«
Sophie stutzte und blickte auf. »Ja.«
Claire lehnte sich im Schaukelstuhl zurück, griff in ihr wildes magentarotes Haar und band es sich zu einem Pferdeschwanz. »Schön für euch«, sagte sie.
Sophie blieb wachsam, doch Claire klang nicht
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