Eine Feder aus Stein
fühlte die Zeichen überall um sich herum, wie sie ihm zuraunten, dass es Zeit war.
Daedalus’ Element war Erde. Er steckte fünf Weihrauchäste in einen hölzernen Halter und zündete sie an. Die spiralförmig aufsteigenden Rauchfäden verwoben sich zu einem duftenden Seil. Leise begann Daedalus zu singen und in eine tiefe Meditation abzugleiten. Dies war der schwierigste Teil: sein Selbst loszulassen, um mit der Welt der Magie zu verschmelzen, sie zu betreten. Daedalus hasste das Gefühl der Verwundbarkeit, hasste es, seine Deckung fallen zu lassen. Schon wahr, es dauerte nur ein paar Sekunden, bis diese Verwundbarkeit durch ein aufbrandendes Gefühl der Kraft ersetzt wurde, und dennoch war es nie leichter geworden.
Er zwang sich, still sitzen zu bleiben und seinen Anflug von Ärger loszulassen. Seinen Ärger, dass Jules nicht zu Hause gewesen war, dass Axelle die ganze Nacht weg gewesen war, und seine Enttäuschung, dass so wenige aus der Treize seinen Erwartungen gerecht geworden waren. Einen nach dem anderen ließ er seine Gedanken frei wie Luftballons, die in die Atmosphäre entschwebten.
Als er seine Verbindung zur Magie wahrnahm, wurde sein Blick immer leerer. Sie war da, allzeit bereit, von ihm genutzt zu werden. Wie üblich erzeugte der Vorgang einen unaufhaltsamen Strom der Freude in ihm. Die Heftigkeit und der Eifer, mit dem er ihn empfing, waren ihm beinahe peinlich.
Ohne sie zu sehen, malte Daedalus die Runen aus dem Gedächtnis in die Luft. Er schrieb das Wort ôte für Geburtsrecht, Erbe, deige für Klarheit, Erwachen, is für ein Hindernis, etwas Erstarrtes oder Verspätetes. Schließlich schrieb er noch die Sigille für »Dinge enthüllen« oder »den Schleier fallen lassen« und eine andere, welche die Empfänglichkeit seiner Vision erhöhen sollte.
Dann wartete er. Einatmen, ausatmen. Sein Herzschlag. Such nicht danach, lass es enthüllt werden.
Vor ihm verdichtete sich der Rauch zu einem dünnen, dunstigen Vorhang. Er schaute zu, versuchte, sich von seinen Bedürfnissen abzuwenden, versuchte, einfach nur da zu sein, ohne Erwartungen. Was auch nach dreihundert Übungsjahren immer noch nahezu unmöglich für ihn war.
Doch da … da! Im Rauch, im Nebel, nahm ein Bild Gestalt an. Ein Gesicht. Schwarze Augen, eine gerade Nase, ein großzügiger Mund. Eine Frau, kein Mädchen. Und sie lachte.
Ist es das, was ich sehen muss? Das Bild schien seine Anwesenheit zu bemerken. Das Gesicht erstarrte, schien überrascht. Dann war es weg, als hätte es der Wind fortgeweht.
Daedalus blinzelte und schüttelte den Kopf.
Er hatte diesen Zauber, wie oft, dreißig Mal angewandt? Oder fünfzig? Siebzig? Er war nicht besonders gut im Wahrsagen, und er hatte so seine Schwierigkeiten damit, Leuten zu glauben, die dies oder jenes gesehen haben wollten. Nur ein paar Mal hatte er wirklich nützliche, sachdienliche Informationen erhalten. Dementsprechend fand er es jetzt nicht einfach, seine Vision für bare Münze zu nehmen.
Das war Melitas Gesicht gewesen.
Wenn er dem Ganzen glauben konnte, dann befand sie sich nach all der Zeit tatsächlich ganz in der Nähe. Sie war nicht tot. Er hatte so lange nach ihr gesucht … Konnte das wirklich sein? Wusste sie, was er im Begriff war zu tun?
Gedankenverloren und wie aus einem Automatismus heraus sammelte Daedalus alles auf, was auf seinen Zauber hätte schließen lassen können. Er hatte Axelle nicht heimkommen gehört, doch um ganz sicherzugehen, sandte er seine Sinne aus. Nein. Niemand war hier außer ihm. Er verstaute den Weihrauch, die Kreide und die Steine.
Melita. Wenn sie wirklich zurück war, konnte das entweder etwas ganz Unglaubliches oder etwas Verheerendes bedeuten.
Kapitel 18
Sie kann es nicht verbergen
Die Frau hinter dem Tresen blickte erst Luc und dann die Zutaten an, die er zu kaufen beabsichtigte.
»Taubenfedern, Honig, getrockneter Fingerhut«, murmelte sie. Ihre etwas eckige braune Hand drehte eine grüne Glasflasche um, sodass sie die Aufschrift darauf lesen konnte. »Getrocknete Schlangenhaut.«
Sie fing seinen Blick auf, starrte ihn an, als wolle sie das Gute und das Böse in ihm abwägen. Er versuchte, nicht vor Erleichterung laut aufzuseufzen, als sie die Artikel in die Kasse eingab und in eine kleine Papiertüte legte. Er bezahlte und steckte die Tüte in einen Lederbeutel.
»Danke«, sagte er.
»Sind Sie …«, begann die Verkäuferin und ließ ihn innehalten. »Sind Sie sicher, dass Sie diese Dinge genau jetzt brauchen?« Ihre
Weitere Kostenlose Bücher