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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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erschien mir wie die Entwicklung eines lebendigen Wesens.
    Den größten Eindruck meiner Jugend hinterließen«Kindheit»von Tolstoi und«David Copperfield»von Dickens. Aus«Kindheit»schrieb ich die Stellen, die mir besonders gefielen, ab und lernte sie auswendig, wie zum Beispiel:«Wird jemals jene Frische, Sorglosigkeit, jenes Verlangen nach Liebe und jene Kraft des Glaubens, welche man in der Kindheit besitzt, zurückkehren? », und andere. Als ich«Copperfield»zu Ende gelesen hatte, weinte ich, als ob ich mich von mir sehr nahestehenden Menschen trennen müßte. Geschichte nach den Lehrbüchern zu lernen, liebte ich nicht; in der Mathematik beschäftigte ich mich nur mit Algebra gern, die ich dann doch, infolge völligen Mangels an mathematischer Begabung, bald wieder vergaß.
    Mein Examen an der Universität legte ich erfolgreich ab. In den beiden Hauptfächern Russisch und Französisch erhielt ich die Note«Ausgezeichnet», und mir wurde ein Diplom ausgehändigt, auf das ich sehr stolz war. Ich erinnere mich, wie angenehm es mir war, später das Lob über meinen Aufsatz«Die Musik»zu hören, das
Professor Tichonrawow meinem Mann gegenüber äußerte. Er fügte hinzu:«Sie brauchten gerade eine solche Frau. Sie besitzt ein sehr feines Gespür für die Literatur, ihr Aufsatz war der beste ihres Jahrgangs.»
    Bald nach dem Examen begann ich eine Erzählung mit dem Titel«Natascha»zu schreiben, als deren Protagonistinnen ich mich selbst und meine Schwester Tanja wählte. Lew Nikolajewitsch nannte danach seine Heldin aus«Krieg und Frieden»Natascha. Er hatte meine Erzählung noch vor der Hochzeit gelesen und über sie in seinem Tagebuch geschrieben:«Welch Energie der Wahrheit und Schlichtheit.»Ich verbrannte diese Erzählung vor meiner Heirat, ebenso meine Tagebücher, die ich seit dem elften Lebensjahr geführt hatte, und Anfänge anderer Jugendwerke, was ich bis heute bereue.
    Mit Musik und Zeichnen beschäftigte ich mich nur wenig, die Zeit reichte nicht dazu; gleichwohl habe ich alle Künste mein Leben lang sehr geliebt und kehrte immer wieder, in den wenigen freien Minuten, die mir in meinem ausgefüllten und arbeitsreichen Leben als Mädchen und vor allem als verheiratete Frau blieben, zu ihnen zurück.

III
    Graf Lew Nikolajewitsch Tolstoi war seit seiner Kindheit mit meiner Mutter bekannt und befreundet. Er war zweieinhalb Jahre jünger als sie. Gelegentlich besuchte er auf der Durchreise unsere Familie in Moskau. Sein Vater Graf Nikolai Iljitsch Tolstoi war gut befreundet mit meinem Großvater Alexander Michailowitsch Islenew, und sie besuchten einander häufig auf ihren Gütern Krasnoje und Jasnaja Poljana. Im August 1862 fuhr meine Mutter mit uns Töchtern zu unserem Großvater nach Iwizy 10 im Landkreis Odojew, und auf der Fahrt dorthin machten wir in Jasnaja Poljana Station, wo meine Mutter seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen und wo gerade die Gräfin Maria Nikolajewna Tolstaja, die beste Freundin meiner Mutter, aus Algier zu Besuch war. 11
    Auf dem Rückweg fuhr Lew Nikolajewitsch mit uns nach Moskau und besuchte uns dann täglich in unserem Sommerhaus in Pokrowskoje und danach in Moskau. Am Abend des 16. September übergab er mir einen schriftlichen Heiratsantrag. Davor hatte wohl niemand die Absichten seiner Besuche bei uns vermutet. 12 In seinem Inneren aber war Unruhe und Kampf. In
seinem Tagebuch jener Zeit schrieb er zum Beispiel folgendes -

    12. September 1862:
    «Ich bin verliebt, wie ich nie geglaubt hätte, daß man verliebt sein kann. Ich bin von Sinnen, ich erschieße mich, wenn das so weitergeht. War am Abend bei ihnen. Sie ist in jeglicher Beziehung liebreizend.»
    13. September 1862:
    «Morgen gehe ich hin, sobald ich aufgestanden bin, und sage alles, oder ich erschieße mich.»

    Ich gab Lew Nikolajewitsch mein Jawort, und unser Brautstand währte nur eine Woche. Am Abend des 23. September wurden wir in der Hofkirche Mariä Geburt getraut und reisten gleich darauf in einer neuen sechsspännigen Dormeuse, von einem Vorreiter geleitet, nach Jasnaja Poljana ab. Uns begleiteten der Lew Nikolajewitsch ergebene Diener Alexej Stepanowitsch und die betagte Hausgehilfin Warwara. Vor unserer Abreise hatten wir entschieden, daß wir in Jasnaja Poljana mit dem Tantchen Tatjana Alexandrowna Jergolskaja 13 unseren Wohnsitz nehmen würden. Von den ersten Tagen an war ich meinem Mann Helferin sowohl in Wirtschaftsdingen als
auch bei der Abschrift seiner Werke. Nachdem die erste Zeit unseres

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