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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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Islenew. Sie starb im Wochenbett, zuvor hatte sie aus dieser Verbindung drei Söhne und drei Töchter geboren, deren jüngste, Ljubow Alexandrowna, meine Mutter war.
    Sofja Petrowna lebte zurückgezogen in Krasnoje 4 , auf dem Landgut meines Großvaters, wo sie auf dem Kirchhof begraben liegt. Man erzählt, sie habe den Geistlichen überredet, sie mit meinem Großvater zu vermählen.«Wenn nicht vor den Menschen, so möchte ich wenigstens vor Gott die Ehefrau Alexander Michailowitschs sein», pflegte sie zu sagen.
    Mein Großvater, Alexander Michailowitsch Islenew, einem alten Adelsgeschlecht entstammend, nahm im Jahr 1812 an der Schlacht von Borodino 5 teil und wurde anschließend als Offizier in die Leibgarde des Preobrashenski-Regiments aufgenommen. Später war er Adjutant des Grafen Tschernyschow. Seine Kinder aus der Verbindung mit Sofja Petrowna konnten den Namen«Islenew»nicht führen, da die Ehe nicht gesetzlich
legitimiert war, und bis heute tragen die Nachkommen den Familiennamen«Islawin» 6 ; viele von ihnen bekleideten hoch angesehene Positionen.

II
    Die Familie meines Vaters und meiner Mutter war sehr zahlreich; ich wurde als zweite Tochter geboren. 7 Mein Vater besaß als Arzt außer seiner Stellung in Diensten der Regierung eine große Praxis und arbeitete häufig über seine Kräfte. Er war bemüht, uns die beste Erziehung angedeihen zu lassen und uns mit allen Annehmlichkeiten des Lebens zu umgeben. Meine Mutter unterstützte dies, doch zugleich prägte sie uns ein, daß wir, da kaum Vermögen vorhanden sei, jedoch viele Kinder, uns darauf vorbereiten sollten, unser Brot selbst zu verdienen. Neben dem Unterricht, den wir erhielten, hatten wir unsere jüngeren Brüder zu unterrichten, zu nähen, zu sticken, den Haushalt zu führen und uns später auf das Hauslehrerinnenexamen vorzubereiten.
    Unsere ersten Erzieherinnen waren Deutsche; das Französische lehrte uns unsere Mutter, später Gouvernanten und ein Lektor für französische
Sprache von der Universität. Die Naturwissenschaften und das Russische unterrichteten Studenten. Einer von ihnen bemühte sich, mich seinen Ansichten entsprechend zu bilden und mir den extremen Materialismus nahezubringen; er gab mir Büchner und Feuerbach zu lesen, erklärte mir, daß es keinen Gott gebe und die Religion ein überholtes Vorurteil sei. Zunächst gefielen mir die Einfachheit seiner Ausführungen über die Atome und die Schlußfolgerung, alles auf der Welt sei auf deren Verbindungen zurückzuführen. Schon bald jedoch fehlten mir der gewohnte orthodoxe Glaube und die Kirche, und ich sagte mich für immer vom Materialismus los.
    Bis zum Examen wurden wir Töchter zu Hause unterrichtet. Im Alter von sechzehn Jahren legte ich die Prüfung zur Hauslehrerin an der Moskauer Universität ab; als Hauptfächer wählte ich Russisch und Französisch. Examiniert wurde ich von den bekannten Professoren Tichonrawow, Ilowaiski, Dawydow, dem Priester Sergijewski und dem Franzosen M. Pascault. Es war eine bedeutungsvolle Zeit. Ich bereitete mich gemeinsam mit meiner Freundin, der Tochter des Universitätsinspektors, auf das Examen vor und bewegte mich deshalb häufig in universitären
Kreisen unter klugen und gebildeten Professoren und Studenten. Dies war zu Beginn der in geistiger Hinsicht herrlichen sechziger Jahre. Gerade war die Aufhebung der Leibeigenschaft proklamiert worden, alle sprachen darüber, und wir junge Menschen waren voller Begeisterung über dieses große Ereignis. 8 Wir versammelten uns, diskutierten, waren froh.
    In jener Zeit tauchten zum ersten Mal in Literatur und Gesellschaft ein neuer Typus und die neue geistige Strömung des Nihilismus unter der Jugend auf. Ich entsinne mich, wie wir in großer Gesellschaft in Anwesenheit von Professoren und Studenten«Väter und Söhne» 9 von Iwan Turgenjew lasen und im Typus des Basarow wie auch im gesamten Werk etwas Neues entdeckten, das uns sehr gefiel und viel für die Zukunft verhieß.
    Ich lernte eher schlecht, beschäftigte mich immer ausschließlich mit dem, was ich liebte. So begeisterte ich mich besonders für die russische Literatur und las damals sehr viel über dieses Thema, von den Chroniken bis zu den neuesten russischen Schriftstellern, besorgte mir alte Werke und Handschriften aus der Universitätsbibliothek. Mich interessierte und erstaunte damals die Tatsache, daß sich das Russische aus seinen Anfängen
in den trockenen Klosterhandschriften zur Sprache Puschkins entwickeln konnte. Dies

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