Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Ehelebens vergangen war, verspürte Lew Nikolajewitsch ein starkes Bedürfnis nach Arbeit. In seinem Tagebuch vom Dezember 1862 schrieb er:«Ich fühle die Kraft der Notwendigkeit zu schreiben.»Und diese Kraft war groß, sie schuf jenes bedeutende Werk, das die frühen Jahre unseres Ehelebens mit Glück und Freude erfüllte.
Kurz nach der Hochzeit beendete Lew Nikolajewitsch«Polikuschka», schrieb die Endfassung der Erzählung«Die Kosaken»und gab sie bei Michail Katkow 14 für den« Russki westnik» in Druck. Darauf machte er sich an einen Roman über die Dekabristen 15 , deren Schicksal und Tätigkeit ihn sehr interessierten. Als er über diese Epoche zu schreiben begonnen hatte, schien es Lew Nikolajewitsch unabdingbar, von der Herkunft und Vorgeschichte der Dekabristen zu erzählen, und er ging bis ins Jahr 1805 zurück. Von diesem Vorhaben kam er ab, doch das Jahr 1805 wurde der Anfang von«Krieg und Frieden», der im« Russki westnik »veröffentlicht wurde. 16 Dieses Werk, das Lew Nikolajewitsch nur ungern einen Roman nannte, schrieb er voller Begeisterung und mit großem Eifer, und es erfüllte unsere Tage mit lebhafter Schaffenslust.
Im Jahr 1864 war schon einiges geschrieben. Lew Nikolajewitsch las mir, Warja und Lisa, den Töchtern seiner Schwester Maria Nikolajewna, oft wundervolle neue Abschnitte vor. Im selben Jahr trug er auch einigen Bekannten und den beiden Moskauer Literaten Shemtschushnikow und Aksakow 17 einige Kapitel vor, und alle waren begeistert. Lew Nikolajewitsch las, wenn er nicht aufgeregt war, außergewöhnlich gut. Ich erinnere mich, wie heiter es in Jasnaja Poljana war, als er Komödien von Molière las, wenn nichts Neues für«Krieg und Frieden»geschrieben war.
Unser Leben in Jasnaja Poljana war in den ersten Jahren sehr zurückgezogen. Aus jener Zeit könnte ich nichts Interessantes aus dem Leben von Gesellschaft und Staat berichten, da alles an uns vorüberging. Wir lebten auf dem Lande, ohne zu reisen, verfolgten die Neuigkeiten nicht, sahen nichts, wußten nichts - und es interessierte uns auch nichts. Ich hatte keine anderen Bedürfnisse, lebte mit den Figuren aus«Krieg und Frieden», liebte sie, verfolgte ihre Lebenswege, als ob sie lebendig seien. Das Leben war so erfüllt und unsagbar glücklich durch unsere gegenseitige Liebe, die Kinder und vor allem die Arbeit an dem so bedeutenden Werk meines Mannes,
das ich und später die ganze Welt verehrte, daß wir nach nichts anderem strebten.
Bisweilen, wenn die Kinder zu Bett gebracht und die Manuskripte oder Korrekturbögen nach Moskau geschickt worden waren, setzten wir uns ans Klavier und spielten vierhändig. Lew Nikolajewitsch liebte besonders Symphonien von Haydn und Mozart. Ich spielte damals recht dürftig, bemühte mich jedoch sehr, nicht zurückzustehen. Es schien, daß auch Lew Nikolajewitsch mit seinem Schicksal zufrieden war. In einem Brief an meinen Bruder schrieb er 1864:«Es ist, als ob erst jetzt unsere Flitterwochen begonnen hätten.»Und an anderer Stelle heißt es:«Ich glaube, so glücklich wie ich ist wohl nur ein einziger unter einer Million.»Auf die Vorhaltungen seiner Verwandten Gräfin Alexandra Andrejewna Tolstaja 18 , er schreibe ihr zu selten, antwortete er:« Les peuples heureux n’ont pas d’histoire 19 - so auch wir.»Jede neue Idee, jede neue vielversprechende Eingebung, die seinem Genie entsprang, machte Lew Nikolajewitsch froh. So schreibt er in seinem Tagebuch am 19. März 1865:«Der Gedanke, eine psychologische Studie Alexanders und Napoleons zu schreiben, umgibt mich mit einer Woge von Glück.»
Im Gefühl der Schönheit seines Werkes hielt
Lew Nikolajewitsch folgende Überlegung fest:«Der Dichter nimmt das Beste aus seinem Leben und legt es in sein Werk. Deshalb ist sein Werk schön und sein Leben schlecht.»Sein Leben zu jener Zeit allerdings war nicht schlecht, sondern ebenso gut und rein wie sein Werk.
Wie gerne schrieb ich«Krieg und Frieden»ab! In meinem Tagebuch notierte ich:«Das Bewußtsein, einem Genie und großen Menschen zu dienen, gab mir Kraft zu allem.»In einem Brief an Lew Nikolajewitsch schrieb ich:«Dein Roman erhebt mich geistig und moralisch ungemein. Sobald ich mich zum Schreiben niedersetze, werde ich in eine poetische Welt getragen, und es scheint mir manchmal, daß nicht nur Dein Roman besonders gut ist, sondern daß auch ich besonders klug bin.»In meinem Tagebuch heißt es:«Ljowotschka ist den ganzen Winter über gereizt, schreibt oft unter Tränen
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