Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
und in großer Aufregung. Mir scheint, daß sein Roman ‹Krieg und Frieden› hervorragend wird. Alles, was er mir vorlas, rührte mich zu Tränen.»Im Jahr 1865 schrieb ich meinem Mann nach Moskau, wo er historische Quellen für seinen Roman studierte:«Heute habe ich weitergelesen und abgeschrieben, was ich zuvor noch nicht kannte, nämlich wie der arme verbundene alte Mack
kommt, um einzugestehen, daß er geschlagen worden sei, und um ihn herum stehen neugierige Adjutanten, er aber ist den Tränen nahe, und sein Treffen mit Kutusow. Mir gefiel es sehr, deshalb schreibe ich Dir davon.»
Im November 1866 besuchte L. N. häufig das Rumjanzew-Museum und las dort alles, was die Freimaurer betraf. Vor seiner Abreise aus Jasnaja Poljana übergab er mir stets die Manuskripte, die ich ins reine schreiben sollte. Wenn ich damit fertig war, schickte ich sie nach Moskau und schrieb einmal in einem Brief:«Wie hast Du hinsichtlich Deines Romans entschieden? Ich habe ihn sehr lieb gewonnen. Indem ich meine Abschrift aus den Händen gebe und nach Moskau schicke, ist mir, als ob ich ein Kind aus den Händen gäbe, und ich fürchte, daß jemand ihm etwas Schlimmes zufügen könnte.»
Häufig konnte ich beim Abschreiben nicht begreifen und nachfühlen, warum etwas, das wunderbar schien, geändert oder gestrichen wurde; ich war glücklich, wenn das zuvor Gestrichene wieder hinzugefügt wurde. Es kam auch vor, daß bereits abgesandte Korrekturbögen auf Bitte Lew Nikolajewitschs zurückbeordert wurden und er von neuem begann, Änderungen und Verbesserungen vorzunehmen. Bisweilen wurden
auch per Telegramm Aufträge erteilt, ein bestimmtes Wort durch ein anderes zu ersetzen. Ich drang mit ganzer Seele in den Text, den ich abschrieb, ein, so daß ich selbst zu spüren begann, wenn etwas holperig schien, wenn Wortwiederholungen und lange Satzgebilde vorkamen, wo Satzzeichen umzustellen waren und der Sinn verdeutlicht werden mußte. Auf all dies wies ich Lew Nikolajewitsch hin. Manchmal freute er sich über meine Anmerkungen, manchmal erläuterte er mir, warum es gerade so sein müsse, sagte, daß Nebensächlichkeiten keine Rolle spielten, sondern das Gesamte wichtig sei.
Das erste, was ich mit meiner unschönen, aber klaren Handschrift abschrieb, war«Polikuschka», und viele Jahre bereitete mir die Arbeit des Abschreibens großes Vergnügen. Ich wartete oft auf den Abend, an dem Lew Nikolajewitsch mir das von ihm Verfaßte oder Korrigierte bringen würde. Einige Stellen aus«Krieg und Frieden»und aus anderen Werken mußten viele Male aufs neue ins reine übertragen werden. Andere dagegen, etwa die Schilderung der Jagd beim Onkel, schrieb er in einem Fluß nieder. Ich erinnere mich, wie Lew Nikolajewitsch mich in sein Arbeitszimmer rief und mir dieses soeben verfaßte Kapitel vorlas; wir lachten und waren glücklich.
Beim Abschreiben erlaubte ich mir manchmal Bemerkungen und bat, zu streichen, was mir als Lektüre für die Jugend als nicht einwandfrei erschien, etwa einige zynische Szenen der schönen Hélène, und Lew Nikolajewitsch gab meinen Wünschen nach. Oft weinte ich beim Abschreiben besonders poetischer und bezaubernder Stellen in den Werken meines Mannes, nicht allein, weil es mich berührte, sondern aufgrund des künstlerischen Hochgenusses, den ich mit dem Schriftsteller zusammen durchlebte.
Es bekümmerte mich sehr, wenn Lew Nikolajewitsch plötzlich von Schwermut und Enttäuschung über seine Werke ergriffen wurde, wenn er mir schrieb, ihm gefalle sein Roman nicht mehr und er sei traurig. Dieses Gefühl war im Herbst 1864, als er sich den Arm gebrochen hatte, besonders mächtig. Ich schrieb ihm nach Moskau:«Was bist Du denn so verzweifelt? Wo Du auch bist, bist Du traurig, nichts will gelingen. Warum verzagst Du und läßt den Mut sinken? Hast Du wirklich keine Kraft, Dich aufzuraffen? Denke doch, wie glücklich Dein Roman Dich gemacht hat, wie gut Du alles durchdacht hast, und plötzlich gefällt er Dir nicht mehr! Nein, nein, das ist falsch! Wenn Du zu uns zurückkommst und an Stelle der Kremlmauern
unseren sonnendurchfluteten Eichenwald und die Felder erblickst..., wirst Du mir mit froher Miene von den Themen neuer Werke berichten und mir diktieren, die Ideen werden fließen, und es wird Schluß sein mit der Hypochondrie.»Nach seiner Rückkehr nach Hause geschah dies dann auch.
Sobald Lew Nikolajewitsch seine Arbeit unterbrach, vermißte ich meine Beschäftigung. Ich bat ihn in einem Brief:«Schreibe, schreibe,
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