Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
damit ich Arbeit habe.»Als er in Moskau den ersten Teil von«Krieg und Frieden»an Katkow vom« Russki westnik »verkauft hatte, bekümmerte mich dies sehr, und ich schrieb:«Es ist so traurig, daß Du Dein Werk verkauft hast. Entsetzlich! Deine Gedanken, Gefühle, Dein Talent, ja Deine Seele hast Du verkauft!»
Als Lew Nikolajewitsch«Krieg und Frieden»beendet hatte, regte ich an, dieses wunderbare Werk nicht nur in Zeitschriften, sondern als Buch zu veröffentlichen, und er stimmte zu. Bald darauf erschien eine glänzende Kritik Nikolai Nikolajewitsch Strachows 20 , über die Lew Nikolajewitsch sagte, der Rang, den Strachow dem Roman in seiner Besprechung beigemessen habe, behalte für immer Gültigkeit. Überdies wuchs Tolstois Ruhm rasch, die Wertschätzung
seiner literarischen Arbeit stieg und erfaßte bald alle Gesellschaftsschichten und Völker.
Die Fürstin Paskewitsch übersetzte in generöser Absicht als erste«Krieg und Frieden»ins Französische, und die Franzosen, wenngleich überrascht, schätzten das Werk des russischen Schriftstellers hoch.
In meinen Dokumenten findet sich ein Brief Iwan Turgenjews an Edmond About 21 , in dem Turgenjew«Krieg und Frieden»höchst anerkennend erwähnt. Unter anderem schreibt er: «Un des livres les plus remarquables de notre temps ... Ceci un grand œuvre d’un grand écrivain et c’est la vraie Russie . » 22
Im Jahr 1869 war der Druck der ersten Auflage von«Krieg und Frieden»abgeschlossen. Sie war schnell vergriffen, und eine zweite wurde in Druck gegeben. Originell war damals das Urteil des Schriftstellers Schtschedrin 23 über«Krieg und Frieden». Er sagte voller Verachtung, das Werk gemahne ihn an das inhaltslose Geschwätz von Kinderfrauen und Großmüttern.
Nach der Fertigstellung seines großen Werkes verließ Lew Nikolajewitsch das Bedürfnis nach literarischer Arbeit nicht. Er hatte neue Ideen, studierte die Epoche Peters des Großen, doch so sehr er sich auch mühte, vermochte er es nicht,
jene Zeit, besonders das alltägliche Leben, darzustellen. In einem Brief an meine Schwester schrieb ich:«Alle Personen aus der Epoche Peters des Großen hat er bereits entworfen, sie sind angekleidet, feingemacht, auf ihre Plätze gestellt, doch sie atmen noch nicht. Vielleicht beginnen sie zu leben.»
Gleichwohl erwachten diese Personen nicht zum Leben. Es blieb bei zehn bisher unveröffentlichten Romananfängen über die Zeit Peters des Großen.
Eine Zeitlang hatte Lew Nikolajewitsch den Plan, die Geschichte Mirowitschs 24 zu schreiben, doch auch dies vollendete er nicht. Er ließ mich stets an seinen Plänen teilhaben, und im Jahr 1870 sagte er, er wolle einen Roman über den moralischen Niedergang einer Dame der höchsten Kreise der Petersburger Gesellschaft schreiben, wobei er sich zum Ziel setze, die Frau und ihre Handlungsweise darzustellen, ohne sie zu verurteilen. Diese Idee bildete die Grundlage für den neuen Roman«Anna Karenina». Ich erinnere mich gut der Umstände, unter denen Lew Nikolajewitsch das Buch zu schreiben begann.
Um dem hochbetagten Tantchen Tatjana Alexandrowna Jergolskaja eine Freude zu bereiten, schickte ich unseren Sohn Serjosha, ihr Patenkind,
zu ihr, damit er ihr aus«Belkins Erzählungen»von Puschkin vorlese. Als sie bei der Lektüre einschlief, legte Serjosha das Buch im Salon auf den Tisch und ging ins Kinderzimmer. Lew Nikolajewitsch nahm das Buch und las einen Abschnitt daraus, der mit den Worten begann:«Die Gäste waren im Sommerhaus des Grafen L. zusammengekommen.»-«Wie gut, wie einfach», sagte Lew Nikolajewitsch.«Direkt zur Sache. So muß man schreiben. Puschkin ist mein Lehrer.»Am selben Abend schrieb Lew Nikolajewitsch den Anfang von«Anna Karenina»und las ihn mir vor; nach einer kurzen Er öffnung über die Familie an sich hieß es dort:«Bei den Oblonskis war alles durcheinandergeraten. »Dies war am 19. März 1872.
Nachdem er den ersten Teil von«Anna Karenina»beendet und mir den zweiten zur Abschrift gegeben hatte, unterbrach er plötzlich diese Arbeit und widmete sich erneut der Pädagogik, worüber er im Jahr 1874 an Alexandra Andrejewna Tolstaja schrieb:«Wieder widme ich mich ganz der Pädagogik, wie vor vierzehn Jahren. Ich schreibe einen Roman, aber von den lebenden Menschen mich loszureißen, um mit erdichteten mich zu beschäftigen, das vermag ich jetzt durchaus nicht.»
Wie schwer mir die Arbeit des Abschreibens bei all meinen Pflichten als Hausfrau und Mutter auch war, fehlte sie mir
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