Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Nikolajewitsch schrieb mir aus der samarischen Steppe, wo er zu einer Kumys-Kur weilte:«Wenn ich, so Gott will, heimkomme, werde ich Dich bei den Angelegenheiten in Moskau eifrig unterstützen, Du brauchst nur zu befehlen.»Er war jedoch nicht in der Lage, sein Versprechen zu halten, da er sogleich nach der Rückkehr von Schwermut erfaßt wurde. Das Landleben und die Natur fehlten ihm, und die Eindrücke der Stadt, die er bereits wieder vergessen hatte, mit ihrer Armut auf der einen und ihrem Luxus auf der anderen Seite, versetzten ihn in Niedergeschlagenheit. Ich weinte oft angesichts seines Zustands, der sich nach seiner Beteiligung an der Moskauer Volkszählung noch verschlimmerte. Er schien mit seinen für Eindrücke so empfänglichen Sinnen das Stadtleben zum ersten Mal wirklich wahrzunehmen. Eine Rückkehr zum alten Leben erachteten wir als nicht sinnvoll, da die Ausbildung der Kinder, die zu unserer wichtigsten Aufgabe geworden war, gerade erst begonnen hatte. Voll Trauer mußten wir zurückblicken und uns eingestehen, daß jene neunzehn Jahre, in welchen wir völlig zurückgezogen in Jasnaja Poljana gelebt hatten, die glücklichsten Jahre unseres Lebens
gewesen waren. Wie mannigfaltig und nützlich waren doch die Beschäftigungen auf dem Lande neben meinen Pflichten für die Familie und meiner Arbeit des Abschreibens für Lew Nikolajewitsch. Kranke Bauersleute suchten mich auf, die ich, soweit ich es vermochte, behandelte, und diese Aufgabe liebte ich sehr. Wir pflanzten einen Apfelhain und auch andere Baumarten und erfreuten uns an ihrem Gedeihen. Einige Zeit hatten wir in unserem Haus eine Schule, in der wir gemeinsam mit unseren heranwachsenden Kindern Bauernkinder unterrichteten. Dies währte allerdings nicht lange, da wir die eigenen Söhne und Töchter zu unterrichten hatten, deren Leben wir so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten suchten. In den Wintern vergnügten wir uns alle, von den Kindern über die Hauslehrer und Gouvernanten bis zu uns Eltern, bei Eislauf und Rodeln, den Schnee auf der Eisbahn räumten wir selbst. Über zwanzig Jahre lang war jeden Sommer in Jasnaja Poljana die Familie meiner Schwester Tatjana Kusminskaja zu Gast, und wir lebten so heiter, daß uns der ganze Sommer wie ein großes Fest schien. Außer den verschiedensten Spielen wie Krocket, Tennis und anderen Zerstreuungen wie Theateraufführungen, Baden, Pilzesuchen, Ausfahrten
und Spaziergängen waren die Sommer auch der Musik gewidmet; wir veranstalteten Konzertwettbewerbe für Kinder und Erwachsene auf dem Klavier und der Violine und im Gesang.
Einen Sommer lang erging sich die Jugend in landwirtschaftlicher Arbeit und brachte zusammen mit Lew Nikolajewitsch die Heuernte der armen Witwen ein. Damals, das heißt um die Wende der 1870er zu den 1880er Jahren, war in ihm bereits jener innere Wandel, jenes Streben nach einem schlichteren und stärker am Geistlichen orientierten Leben zu spüren, das ihn bis ans Ende seiner Tage nicht mehr verließ. Unser unumwölktes Glück, das wir so viele Jahre lang erlebt hatten, fand damit sein Ende! Zu Beginn dieser geistigen Entwicklung gab sich Lew Nikolajewitsch, wie allgemein bekannt, mit Leidenschaft dem orthodoxen Glauben und der Kirche hin. Darin sah er die Vereinigung mit dem einfachen Volke. Doch allmählich wandte er sich davon ab, was auch aus seinen späteren Schriften ersichtlich ist. Es ist schwierig zu ergründen, wie und wann genau sich dieser innere Wandel in Lew Nikolajewitsch endgültig vollzogen hat. Aufgrund meines anstrengenden und arbeitsreichen Daseins und meiner Mutterpflichten
konnte ich mich nicht mehr ausschließlich den geistigen Interessen meines Mannes hingeben, er aber zog sich immer weiter und weiter vom Leben der Familie zurück. Wir hatten damals bereits neun Kinder, und je älter diese wurden, desto schwieriger gestalteten sich ihre Erziehung und das Verhältnis zu ihnen. Der Vater entfernte sich immer mehr von ihnen und sagte sich zuletzt gänzlich von der Teilnahme an der Erziehung der Kinder los, indem er sich darauf berief, daß man sie nach bestimmten Programmen unterrichte und die Gesetze der Kirche lehre, was er nicht gutheißen könne.
Meine bescheidenen Kräfte reichten nicht aus, diese Gegensätze auszugleichen, ich wurde häufig von Verzweiflung erfaßt, erkrankte sogar, doch ich sah keinen Ausweg. Was tun? Wieder aufs Land übersiedeln, alles aufgeben? Doch auch dies schien Lew Nikolajewitsch nicht zu wollen. Gegen meinen Wunsch
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