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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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dagegen im Jahr 1905 die Geburt des einzigen Kindes unserer Tochter Tatjana Lwowna Suchotina. Diese Enkelin wurde der Liebling Lew Nikolajewitschs und der gesamten Familie.
    Im Jahr 1906 hatte ich eine schwere Operation zu überstehen, der ich mich in Jasnaja Poljana bei Professor W. F. Snegirjow unterzog. Ruhig bereitete ich mich auf den Tod vor, und die bitteren Tränen all jener, die mich umsorgten, als sie von mir Abschied nahmen, taten mir wohl. Ein merkwürdiges Gefühl erfaßte mich, als ich durch den Äther, den man mich einatmen ließ, einschlief: Es war etwas Bedeutungsvolles und Neues. Das gesamte komplizierte äußere Leben, besonders jenes der Städte, lief wie ein schnell sich
veränderndes Panorama vor meinem inneren Auge ab. Wie nichtig erschien mir die eitle Rastlosigkeit der Menschen!«Was ist denn wichtig?»schien ich mich selbst zu fragen. Nur eines: Wenn Gott uns nun einmal auf die Erde sendet und wir leben müssen, dann ist das Wichtigste, sich gegenseitig soviel als möglich zu helfen. Sich gegenseitig zu leben helfen. Ich denke auch jetzt noch so.
    Die Operation verlief gut; das Schicksal, das beschlossen hatte, meinem Leben ein Ende zu machen, schien sich eines anderen besonnen zu haben und streckte seine Hand nach unserer Tochter Mascha aus. Ich gesundete, doch Mascha, dieses liebe, sich selbst aufopfernde, geistige Geschöpf, starb zweieinhalb Monate nach meiner Operation in unserem Hause an Lungenentzündung. Und dieser Schmerz legte sich wie ein schweres Joch auf unser Leben und unsere alternden Herzen. Die einstigen Unbilden unseres Lebens, die Unannehmlichkeiten und Vorwürfe, fanden vorläufig ein Ende, und wir fügten uns dem Schicksal. Die Zeit verging, wie gewöhnlich, bei der Arbeit; zur Erholung spielte Lew Nikolajewitsch mit seinen Kindern und Freunden Karten, besonders Wint, ein Spiel, das er sehr liebte. Des Morgens schrieb er, unternahm täglich
Ausritte und führte ein sehr ruhiges und rechtes Leben. Er wurde allerdings häufig von Besuchern behelligt, die ihn ermüdeten, von Bittstellern und Briefen, in denen man ihm vorwarf, sein Leben stimme nicht mit seinen Überzeugungen überein, oder ihn um Geld, Vermittlung einer Anstellung oder ähnliches bat.
    Die Vorwürfe und die Einmischung Fremder in unser friedliches Familienleben zerstörten es denn auch. Schon zuvor hatte sich allmählich der Einfluß fremder Personen eingeschlichen und nahm gegen Ende des Lebens Lew Nikolajewitschs beängstigende Ausmaße an. So versuchte man, ihm Angst einzuflößen, indem man behauptete, die russische Regierung werde alle seine Schriften beschlagnahmen lassen. Unter diesem Vorwand wurden sie aus Jasnaja Poljana fortgebracht, und aus diesem Grunde konnte Lew Nikolajewitsch nicht mehr an ihnen arbeiten, da er nicht alle Papiere zur Hand hatte. Später gelang es mir mit großer Mühe, sieben umfangreiche Hefte der Tagebücher meines Mannes zurückzuerhalten, die sich heute bei unserer Tochter Sascha in Verwahrung befinden. Dies erschwerte die Beziehungen zu jenem Mann, der sie zuvor verwahrte, und diese Person stellte daraufhin seine täglichen Besuche bei uns ein. 58

XI
    Im Jahr 1895 schrieb Lew Nikolajewitsch einen Brief, in dem er in Form einer Bitte an seine Erben dem Wunsch Ausdruck verlieh, die Urheberrechte an seinen Werken der Allgemeinheit zu überlassen. Die Sichtung und Herausgabe seiner Manuskripte nach seinem Tode übertrug er Nikolai Strachow, Tschertkow und mir. 59 Dieser Brief wurde von unserer Tochter Mascha aufbewahrt und später vernichtet. An dessen Stelle wurde im September 1909 in Tschertkows Haus in Krekschino, unweit Moskaus, wo Lew Nikolajewitsch damals gemeinsam mit anderen Personen zu Besuch war, ein Testament aufgesetzt. 60 Doch dieses Testament erwies sich als rechtlich fehlerhaft und daher nicht bindend, wie die«Freunde»herausfanden.
    Unsere Rückfahrt aus Krekschino über Moskau nach Hause war grauenvoll. Einer der«Nahestehenden»hatte durch die Presse verlautbaren lassen, daß und zu welcher Stunde Lew Nikolajewitsch an jenem Tag auf dem Kursker Bahnhof sein werde. Es versammelten sich mehrere tausend Menschen zu unserem Geleit, und wir wurden von der riesigen Menge beinahe erdrückt. In manchen Minuten schien mir gar, die ich am
Arm meines Mannes ging und aufgrund eines schmerzenden Beines hinkte, ich bekäme keine Luft und würde augenblicklich hinstürzen und sterben. Trotz der frischen Herbstluft umgab uns eine drückendheiße Atmosphäre.
    Auf Lew

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