Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Leben in Jasnaja Poljana, und jene Energie, die einst dem Leben zugewandt war, richtete und richtet sich nun
darauf, mein gramvolles Dasein würdig und in Demut dem Willen Gottes ergeben zu ertragen. Ich bin bestrebt, mich nur Dingen zu widmen, die dem Andenken Lew Nikolajewitschs dienen.
Ich lebe auf Jasnaja Poljana, hüte das Haus mit der Einrichtung, wie sie zu Lebzeiten Lew Nikolajewitschs war, und pflege sein Grab. Für mich selbst habe ich zweihundert Dessjatinen 69 Land behalten, mit dem Apfelhain und einem Teil jener Pflanzungen, mit denen wir einst so liebevoll unsere Besitzungen verschönerten. Den größten Teil unserer Ländereien (vierhundertfünfundsiebzig Dessjatinen), samt den wohlgepflegten und herrlichen Wäldern, habe ich an meine Tochter Alexandra Lwowna verkauft, damit sie ihn den Bauern übergebe.
Auch habe ich mein Moskauer Haus der Stadt verkauft, 70 ebenso wie die letzte von mir herausgegebene Werkausgabe des Grafen Lew Nikolajewitsch Tolstoi, und habe die Gelder sämtlich meinen Kindern übergeben. Ihrer und der Enkel sind so viele! Die Ehegatten und mich selbst eingeschlossen, zählt unsere gesamte Familie achtunddreißig Personen, und meine Hilfe erwies sich daher bei weitem nicht als ausreichend.
Tiefempfundene Dankbarkeit bringe ich in meinem Herzen allezeit Seiner Majestät für die
mir gewährte Pension dar, mit deren Hilfe ich nicht in Armut leben muß und das Anwesen Jasnaja Poljana erhalten kann.
Drei Jahre sind seither vergangen. Voller Trauer betrachte ich die Zerstörung Jasnaja Poljanas, muß zusehen, wie die von uns gepflanzten Bäume gefällt werden und die Schönheit unseres Ortes allmählich zerstört wird, nachdem alles in den Besitz der Holzhändler und Bauern überging, unter denen es so oft zu Hader des Landbesitzes oder des Waldes wegen kommt. Was wird nur nach meinem Tode mit dem Gut und dem Hause werden?
Fast jeden Tag gehe ich zum Grab und danke Gott für jenes Glück, das mir in früheren Tagen geschenkt war. Meines Mannes und meine letzten Qualen sehe ich als Prüfung und Buße der Sünden vor dem Tode. Dein Wille geschehe! 71
Gräfin Sofja Tolstaja
28. Oktober 1913 / Jasnaja Poljana
ANMERKUNGEN
EINE FRAGE DER SCHULD
Provoziert durch Lew Tolstois skandalträchtige Erzählung Die Kreutzersonate (1890), verfaßte Sofja Tolstaja diesen«Gegenroman»in den Jahren 1892-1893, veröffentlichte ihn jedoch nicht. 1994 - fünfundsiebzig Jahre nach ihrem Tod - wurde der Roman erstmals im Original publiziert (siehe Nachwort).
1 Ludwig Büchner (1824-1899), dt. Philosoph, Vertreter des naturwissenschaftlichen Materialismus. Ludwig Feuerbach (1804-1872), dt. Philosoph, entwickelte eine religionskritische Anthropologie und hatte starken Einfluß auf die atheistischen Strömungen des 19. Jh., insbesondere den Marxismus-Leninismus.
2 Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew (1803-1873), russ. Lyriker.
3 Zitat aus dem gleichnamigen Gedicht Tjuttschews von 1849 in der Übertragung von Ludolf Müller.
4 Frz.«Ich fürchte, ich liebe den Fürsten.»
5 Von frz.«dormir»,«schlafen»: Reisewagen mit Liegeplatz.
6 Früheres russ. Längenmaß. 1 Werst entspricht 1,067 Kilometern.
7 Frz.«Arme Kleine!»
8 Frz.«Morgenmantel».
9 Frz.«Die arme Kleine leidet».
10 Organ der begrenzten lokalen Selbstverwaltung nach der Gouvernementsreform von 1864.
11 Kaukasisches Gebirgspferd.
12 Alphonse-Marie-Louis Prat de Lamartine (1790-1869), frz. Schriftsteller. Inspiriert vom frühen Tod seiner Geliebten, verfaßte er die Méditations poétiques (1820), einen Band romantischer Dichtung, der ihn über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt machte.
13 Kopf und Schultern bedeckender Spitzenschleier.
14 Von arab.« chilat »: mantelartiges Gewand, von einem breiten Gürtel zusammengehalten.
15 Frz.«Nein, nie werde ich mich entschließen, zu dieser Stunde und in dieser Kleidung bei Ihnen zu erscheinen. »-«Sie wollen mich zur Verzweiflung bringen! »-«Und was sollte Ihre tugendhafte Frau davon halten?»
16 Frz.«allein»,«unter vier Augen».
17 Frz.«Die Nacht ist das geheimnisvolle Buch der Nachdenklichen, Verliebten und Dichter. Sie allein verstehen es, darin zu lesen, sie allein sind im Besitz seines Schlüssels. Dieser Schlüssel ist die Unendlichkeit. »
18 Frz.«Die stärksten Fähigkeiten jedes Menschen sind jene, in denen er sich geübt hat.»Aus: Seneca, De providentia ( Über die Vorsehung ), 4, 13; im Original auf frz. zitiert. Das lat. Zitat lautet:« id in quoque
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