Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Die Familie war ihm eine Last, wenngleich er uns auch liebte. Über mich erboste er sich oft. Wir standen ihm bei der Verwirklichung seines Traumes von einem
freien, neuen Leben, von einer«großen Tat»im Wege. Mitunter wurde er milder und notierte beispielsweise folgendes im Tagebuch:«Mit Sonja geht es gut. Gestern dachte ich, als ich sie mit Andrjuscha und Mischa beobachtete, welch gute Mutter und Ehefrau im althergebrachten Sinne sie doch ist.»Diese Einstellung, die er auch mir gegenüber von Zeit zu Zeit äußerte, tröstete mich, doch die beharrliche Ablehnung unseres ganzen Lebens quälte mich immer wieder und ließ mich verzweifeln.
Die Hilfe für die Hungernden kostete meinen Sohn Lew, der damals noch ein junger Student war und im Gouvernement Samara eigenständig die Hungerhilfe organisierte, beinahe das Leben. Seine Gesundheit war nach überstandenem Typhus geschwächt, und ich litt lange, da ich sein Leben schwinden sah. Er gesundete nach mehr als zweijähriger Krankheit, doch im Jahr 1895 starb unser jüngster Sohn Wanetschka im Alter von sieben Jahren. Er war der Liebling aller, dem Vater außergewöhnlich ähnlich, ein kluges, empfindsames Kind, nicht von dieser Welt, wie man über solche Kinder zu sagen pflegt. Dies war der größte Kummer meines Lebens, und lange konnte ich nicht Trost noch Ruhe finden. Zuerst verbrachte ich ganze Tage in Kirchen und Kathedralen,
ich betete auch zu Hause und bei Spaziergängen im Garten, wo mich alles an die hagere, zarte Gestalt meines Knaben erinnerte.«Wo bist du, wo bist du, Wanetschka?»schrie ich bisweilen auf, konnte mein Unglück nicht fassen. Schließlich erkrankte ich schwer, nachdem ich neun Stunden in der Erzengel-Kathedrale zugebracht hatte (es war Fastenzeit) und auf dem Heimweg in die Chamownitscheski-Gasse zu Fuß im Regen durchnäßt worden war. Man erwartete bereits meinen Tod, doch in der Osternacht, beim Geläut der Kirchenglocken, kam ich zu mir und trat erneut in mein gramvolles Leben. Alle, die mich umgaben, besonders mein Mann und die beiden ältesten Töchter, waren außergewöhnlich schonungsvoll, gut und zartfühlend mit mir. Dies tröstete mich und tat mir wohl.
Im Frühling kam meine Schwester Tatjana Andrejewna Kusminskaja und nahm mich mit zu sich nach Kiew, das mich tief beeindruckte und in mir eine noch stärkere Neigung zum Gebet hervorrief. Meine niedergeschlagene und teilnahmslose Gemütsverfassung hielt auch den Sommer über an, doch unerwartet und zufällig befreite mich aus diesem Zustand die Musik. In jenem Sommer war ein bekannter Komponist und hervorragender Pianist unser Gast. 51 An den Abenden
spielte er mit Lew Nikolajewitsch Schach und auf dessen und unser aller Bitte danach noch häufig Klavier. Bei den wunderbaren Klängen der Werke Beethovens, Mozarts, Chopins und anderer Komponisten, brillant vorgetragen, vergaß ich für kurze Augenblicke mein bitteres Leid und wartete ungeduldig auf die Abende, an denen ich die herrliche Musik wieder hören würde.
So ging der Sommer dahin, und im Herbst, zurück in Moskau, begann ich Unterricht bei einer Klavierlehrerin zu nehmen, mit meinen zweiundfünfzig Jahren wieder zu repetieren und mein Spiel zu vervollkommnen. Meine Erfolge waren gering, dazu war es zu spät. Doch ich besuchte Konzerte, und die Musik errettete mich vor der Verzweiflung. Lew Nikolajewitsch hat einmal über die Musik geschrieben:«Die Musik ist leiblicher Genuß für das Ohr. Zwar ist der Genuß weniger sinnlich als die Geschmacksempfindung des Essens, doch ist sie absolut kein Gefühl der Sittlichkeit.»
Diese Ansicht konnte ich nicht teilen. Er selbst weinte oft beim Spiel seiner Lieblingsstücke. Weint man denn bei der Befriedigung eines leiblichen Bedürfnisses? Auf mich wirkte die Musik immer trostreich und erhebend. Alle nichtigen, alltäglichen Unbilden verloren ihre Bedeutung.
Bei den Klängen der Sonate mit dem Trauermarsch von Chopin oder einiger Sonaten von Beethoven und vieler anderer herrlicher Musikwerke verlangte es mich oft danach zu beten, zu vergeben, zu lieben und über Höheres, Geistiges und Geheimnisvoll-Schönes nachzusinnen, wie jene Klänge, die nichts Bestimmtes besagen, unendlich und herrlich, träumerisch und beglükkend sind.
IX
Im August 52 reiste ich mit Lew Nikolajewitsch zu seiner Schwester Maria Nikolajewna ins Kloster bei Schamardino 53 . Von dort fuhren wir weiter nach Optina Pustyn 54 , wo ich nach Beichte und Fasten das Abendmahl empfing. Während ich beichtete,
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