Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
ging Lew Nikolajewitsch vor der Zelle des Beichtvaters Gerassim auf und ab, trat aber nicht ein.
Nach Wanetschkas Tod war das Leben unserer Familie nicht mehr so froh wie zuvor. Nach und nach heirateten die älteren Kinder, und das Haus leerte sich. Besonders schwer war die Trennung von den Töchtern. Die Gesundheit Lew Nikolajewitschs wurde schwächer, und im September
1901 verordnete ein Ärztekonzil einen Aufenthalt im Süden, auf der Krim. Die Gräfin Panina besaß die Liebenswürdigkeit, uns ihre prächtige Villa in Gaspra zur Verfügung zu stellen, wo wir und die fast vollzählige Familie etwa zehn Monate verbrachten. Der Gesundheitszustand Lew Nikolajewitschs wurde allerdings nicht besser, sondern verschlechterte sich sogar. Er hatte in Gaspra eine Infektionskrankheit nach der anderen, und mit Schmerz im Herzen denke ich an jene Zeit zurück, in der ich fast zehn Monate lang Nacht für Nacht am Bett meines kranken Mannes sitzend verbrachte. Ich wurde dabei von meinen Töchtern, Söhnen, den Ärzten und Freunden und vor allem von unserem Sohn Serjosha unterstützt und abgelöst. Was habe ich in diesen Nächten nicht durchgemacht und nachgedacht!
Nach Moskau kehrten wir anschließend nicht mehr zum ständigen Aufenthalt zurück, denn ich hatte gemeinsam mit den Ärzten entschieden, daß es für Lew Nikolajewitsch besser sei, in seiner vertrauten und geliebten Umgebung in Jasnaja Poljana zu leben.
Nachdem wir nach der Rückkehr von der Krim beschlossen hatten, auf dem Lande zu wohnen, verlebten wir die nächsten Jahre ruhig und
friedlich; jeder ging seiner Beschäftigung nach. Ich schrieb unermüdlich an meinen Erinnerungen unter dem Titel«Mein Leben», reiste gelegentlich in Angelegenheiten der Publikation von Lew Nikolajewitschs Werken nach Moskau, suchte dort an den Vormittagen das Historische Museum auf und exzerpierte aus den Tagebüchern, Briefen und Notizbüchern das für meine Arbeit notwendige Material. Diese Arbeit im Turmzimmer des Museums, in völliger Abgeschiedenheit, umgeben von solch interessanten Dokumenten, bereitete mir großes Vergnügen. Ich habe die Manuskripte nicht in die notwendige Ordnung gebracht, da ich annahm, daß man dies auch ohne mich tun werde. Ich hielt es für dringlicher, meine Erinnerungen niederzuschreiben, da ich nicht auf ein langes Leben und ein gutes Gedächtnis hoffte.
Darüber hinaus widmete ich mich damals leidenschaftlich der Malerei, die mich immer fasziniert hatte. Dies geschah aufgrund folgenden Umstands: In Petersburg wurde im Taurischen Palais eine überragende und überaus interessante Ausstellung von Porträts aller Epochen gezeigt. Man wandte sich auch an uns, mit der Bitte, unsere Familienporträts aus Jasnaja Poljana zur Verfügung zu stellen. Die Vorstellung der
nackten Wände in unserem Saal schien mir entsetzlich, und so begann ich mit der mir eigenen Beherztheit, die Porträts vor der Übergabe zu kopieren. Ich hatte die Malerei nie erlernt, liebte sie jedoch ebenso wie jede andere Kunstrichtung, war deshalb furchtbar aufgeregt und arbeitete ganze Tage, mitunter auch Nächte hindurch. Wie zuvor mit der Musik, beschäftigte ich mich nun ebenso überschwenglich mit der Kunst. Lew Nikolajewitsch sagte scherzhaft, ich sei an einer Krankheit namens«Porträtitis»erkrankt und er fürchte um mein geistiges Befinden. Von all meinen Versuchen gelang die Kopie des Porträts Lew Nikolajewitschs von Iwan Kramskoi 55 am besten. Später malte ich nach der Natur, versuchte mich in Landschafts- und Blumenbildern, doch meine starke Kurzsichtigkeit behinderte mich in vielem, vor allem aber war ich unzufrieden wegen der Unzulänglichkeit meiner Arbeit. Doch ich bereue nicht, daß ich mich in vorgerücktem Alter, sei es auch unzulänglich, mit der Musik und der Kunst beschäftigt habe. Erst dann kann man die Kunst verstehen, wenn man sich, wenngleich unvollkommen, selbst mit ihr befaßt hat.
Meine letzten Studien waren Aquarellzeichnungen der gesamten Flora und aller Pilzarten der Wälder von Jasnaja Poljana.
X
Im Jahr 1904 hatte ich schwer daran zu tragen, daß mein Sohn Alexej in den Krieg gegen Japan zog. 56 Da ich den Krieg als solchen ebenso wie jegliches Töten in meinem Inneren zutiefst ablehnte, begleitete ich ihn mit besonders tiefem Schmerz im Herzen nach Tambow 57 und sah, zusammen mit den anderen Müttern, wie die Züge mit den Soldaten - unseren dem Tode geweihten Kindern - sich in Bewegung setzten.
Ein freudiges Erlebnis in unserer Familie war
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