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Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja

Titel: Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Tolstaja Ursula Keller Alfred Frank Ursula Keller
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Nikolajewitschs Gesundheitszustand wirkte dies alles sich sehr nachteilig aus. Nachdem wir den Bahnhof Schtschokino passiert hatten, begann er bereits unklar zu sprechen und nahm von dem, was ihn umgab, absolut nichts mehr wahr. Zu Hause angekommen, fiel er nach wenigen Minuten in tiefe Bewußtlosigkeit, die sich später noch einmal wiederholte. Glücklicherweise wurden wir von einem Arzt begleitet. Nach diesem Ereignis litt ich mehr und mehr unter schwerer nervlicher Anspannung und sah Tag und Nacht nach dem Befinden meines Mannes. Wenn er allein ausritt oder einen Spaziergang unternahm, wartete ich unruhig auf seine Rückkehr, da ich befürchtete, er werde erneut das Bewußtsein verlieren oder an einem Ort, an dem man ihn nur schwer finden könne, stürzen.
    Aufgrund dieser Aufregungen, verbunden mit der schwierigen und verantwortungsvollen Aufgabe der Herausgabe der Werke L. N. Tolstois, wurde ich immer nervöser und unruhiger und meine Gesundheit vollends zerrüttet. Ich hatte
das seelische Gleichgewicht verloren und machte durch meinen Zustand auch meinem Mann das Leben schwer. 61 Zugleich begann Lew Nikolajewitsch nun immer wieder zu drohen, er werde das Haus verlassen, sein«naher»Freund aber bereitete inzwischen mit dem Rechtsanwalt M. 62 sorgfältig ein neues Testament vor, das rechtlich Bestand haben sollte und das von Lew Nikolajewitsch am 23. Juli 1910, im Wald auf einem Baumstumpf sitzend, abgeschrieben wurde. 63
    Dieses Testament wurde nach seinem Tode auch anerkannt.
    In seinem Tagebuch aus jener Zeit notierte er, unter anderem, folgendes:«Sehr klar habe ich meinen Fehler erkannt: Ich hätte alle Erben zusammenrufen und ihnen meinen Willen darlegen müssen und hätte dies nicht heimlich tun dürfen. Ich habe dies X geschrieben, was ihn sehr erbitterte.» 64
    Am 5. August schrieb er über mich:«Die ständige Heimlichkeit bedrückt mich, und ich habe Angst um sie.»
    Am 10. August heißt es:«Es ist gut, sich schuldig zu fühlen, und ich fühle mich schuldig.»Und weiter:«Der Umgang mit allen fällt mir schwer, und ich vermag es nicht, den Tod nicht zu wünschen.»

    Es ist augenscheinlich, daß der auf ihn ausgeübte Druck ihn quälte. Einer seiner Freunde, P. I. B-w. 65 , war der Überzeugung, man solle kein Geheimnis aus dem Testament machen, was er Lew Nikolajewitsch auch sagte. Zunächst schloß er sich auch der Meinung jenes wahren Freundes an, doch dieser reiste ab, und Lew Nikolajewitsch ordnete sich wieder dem Einfluß anderer unter, wenngleich er offenbar auch bisweilen darunter litt. Ihn von diesem Einfluß zu erretten, stand nicht in meiner Macht, und es begann für Lew Nikolajewitsch und mich die grauenvolle Zeit eines heftigen Kampfes, durch den ich noch schwerer erkrankte. Die Leiden meines gequälten, brennenden Herzens umnebelten mein Urteilsvermögen, und auf seiten Lew Nikolajewitschs wurde ausdauernd und zielgerichtet auf das Bewußtsein des an Gedächtnis und Kräften zunehmend schwächer werdenden Greises eingewirkt. Um den mir liebsten Menschen wurde eine Atmosphäre der Verschwörung geschaffen, mit heimlich empfangenen und nach Lektüre dem Absender zurückzusendenden Briefen und Aufsätzen, mit heimlichen Besuchen und Zusammenkünften im Wald, bei denen Rechtsakte abgefaßt wurden, die Lew Nikolajewitsch im Grundsatz ablehnte. Nach deren Niederschrift
konnte er mir und seinen Söhnen nicht mehr ruhig in die Augen blicken, da er zuvor noch niemals irgend etwas vor uns geheimgehalten hatte. Es war ihm unerträglich, daß dies im Leben das erste Geheimnis zwischen uns war. Wenn ich, die ich die Heimlichkeit spürte, fragte, ob ein Testament abgefaßt werde und warum man dies vor mir geheimhalte, verneinte man dies oder schwieg. Ich schenkte dem Glauben. Dies bedeutete, daß es ein anderes Geheimnis geben müsse, von dem ich nichts wußte, und mich überkam Verzweiflung, denn ich fühlte beständig, daß mein Mann zielbewußt gegen mich aufgebracht wurde, und daß eine furchtbare, schicksalhafte Entwicklung sich vollzog. Lew Nikolajewitsch drohte immer öfter, das Haus zu verlassen, und dies quälte mich nur noch mehr und verschlimmerte meinen krankhaft-nervösen Zustand.
    Ich werde nicht ausführlich beschreiben, wie Lew Nikolajewitsch das Haus verließ. Es ist genug darüber geschrieben worden, und es wird weiterhin darüber geschrieben werden, den wahren Grund aber wird nie jemand erfahren. Mögen seine Biographen ihn ausfindig machen.
    Als ich in dem mir von unserer Tochter

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