Eine Frage der Schuld - Mit der Kurzen Autobiographie der Graefin S A Tolstaja
Sascha übergebenen Brief Lew Nikolajewitschs las, daß
er für immer fortgegangen sei, erkannte ich klar, daß es - nach allem, was vorgefallen war - ohne ihn kein Leben für mich geben könne, und ich entschied mich sogleich, meinen Leiden ein Ende zu setzen, indem ich mich in den Teich stürzte, in dem nicht allzulange zuvor ein Mädchen und dessen kleiner Bruder ertrunken waren. Aber ich wurde gerettet, und als Lew Nikolajewitsch von alldem erfuhr, weinte er bitterlich, wie mir seine Schwester Maria Nikolajewna in einem Brief mitteilte; zur Rückkehr allerdings konnte er sich nicht entschließen.
Nachdem Lew Nikoaljewitsch mich verlassen hatte, erschien in den Zeitungen ein Artikel, in dem einer der«am nächsten stehenden»Freunde seine Freude über dieses Ereignis ausdrückte. 66
XII
Alle unsere Kinder kamen nach Jasnaja Poljana, sie konsultierten einen Nervenarzt und stellten mir eine Pflegerin zur Seite. Fünf Tage lang aß ich nichts und trank nicht einen Tropfen Wasser.
Ich empfand keinen Hunger, doch der Durst quälte mich. Am fünften Tag überredete mich meine Tochter Tanja, eine Tasse Kaffee zu trinken,
indem sie sagte, wenn Vater mich rufen lie ße, wäre ich zu schwach, um zu ihm zu reisen.
Am nächsten Morgen erhielten wir aus der Redaktion der Zeitung« Russkoje slowo » 67 ein Telegramm des Inhalts, daß Lew Nikolajewitsch in Astapowo 68 krank, mit 40 Grad Fieber, darniederliege. Der ihm«Nahestehende»hatte bereits vor uns ein Telegramm erhalten und war dorthin gereist, hatte den Aufenthaltsort vor der Familie jedoch streng geheimgehalten. Von Tula nahmen wir einen Sonderzug und reisten nach Astapowo. Unserem Sohn Serjosha, der zufällig auf dem Weg zu seinem Gut gewesen war, war von unserer Tochter Sascha durch seine Frau ein Telegramm nachgesandt worden, so daß er sich bereits beim Vater aufhielt.
Es begannen nun für mich neue, grausame Leiden: Um meinen dahinscheidenden Mann hatte sich eine Gruppe fremder und fernstehender Menschen versammelt, mich aber, die Ehefrau, die achtundvierzig Jahre mit ihm zusammengelebt hatte, ließ man nicht zu ihm. Die Türen wurden verschlossen, und wenn ich durch das Fenster nach meinem Mann sehen wollte, wurde dieses verhängt. Zwei Pflegerinnen, die mir zur Seite standen, hielten mich an beiden Armen fest, so daß ich mich nicht frei bewegen
konnte. Einmal ließ Lew Nikolajewitsch unsere Tochter Tanja zu sich rufen und fragte sie, als sie allein waren, ganz genau nach meinem Befinden; er ging davon aus, ich sei in Jasnaja Poljana. Bei jeder Frage weinte er, und meine Tochter sagte zu ihm:«Laß uns nicht von Mama sprechen, das regt dich zu sehr auf.»-«Ach was», erwiderte er,«dies ist mir das Wichtigste von allem…»Dann sagte er ihr noch undeutlich:«Vieles stürzt auf Sonja nieder, wir haben schlecht gehandelt.»
Niemand sagte ihm, daß ich gekommen sei, obwohl ich alle beständig darum anflehte. Wer derart grausam war, ist schwer zu sagen. Alle fürchteten, seinen Tod zu beschleunigen, wenn der Kranke sich aufrege; dies war auch die Ansicht der Ärzte. Doch wer kann wissen, ob nicht das Wiedersehen mit mir und meine gewohnte Fürsorge seinen Zustand verbessert hätten? In einem seiner Briefe an mich, die ich jüngst veröffentlicht habe, schreibt Lew Nikolajewitsch, er fürchte, zu erkranken, wenn ich nicht bei ihm sei.
Die Ärzte ließen mich erst zu meinem Mann, als er kaum mehr atmete; er lag bewegungslos, mit bereits geschlossenen Augen auf dem Rükken. Ich sprach ihm leise, voller Zärtlichkeit ins Ohr, in der Hoffnung, er könne es noch hören, daß ich die ganze Zeit in Astapowo gewesen sei
und ihn bis zum Schluß geliebt hätte... Ich erinnere mich nicht, was ich noch sagte, doch zwei tiefe Seufzer, offenbar mit großer Mühe hervorgestoßen, antworteten auf meine Worte, danach war alles still...
Die folgenden Tage und Nächte brachte ich bei dem Verstorbenen zu, und in mir war alles Leben erstarrt. Der Leichnam wurde nach Jasnaja Poljana überführt, es kamen viele Menschen zusammen, doch ich sah, ja ich erkannte niemanden und erkrankte am Tag nach der Bestattung an derselben Krankheit, an Lungenentzündung, wenngleich in schwächerer Form, und lag achtzehn Tage darnieder.
Eine große Beruhigung war mir in jener Zeit die Anwesenheit meiner Schwester Tatjana Andrejewna Kusminskaja und der Nichte meines Mannes, Warwara Valerjanowna Nagornaja. Meine trauernden Kinder waren zu ihren Familien gefahren.
XIII
Nun begann mein einsames
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