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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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abzuholen. Es war ein freundlicher, aber kühler Tag, an dem eine kräftige Brise aus Südwest ging und die See ziemlich rau war. Spicer beobachtete, wie seine Männer sich mit kräftigen Ruderschlägen dem Pier näherten, den Damen beim Einsteigen halfen und wieder ablegten. Seinem Blick verborgen blieb hingegen, dass sich seit geraumer Zeit aus entgegengesetzter Richtung, also vom belgischen Festland her, mit der beachtlichen Geschwindigkeit von zwölf Knoten pro Stunde das deutsche U-Boot U12 näherte, dessen Kommandant Walter Forstmann Befehl hatte, im Ärmelkanal nach britischen Kriegsschiffen zu suchen und nach Möglichkeit eines mittels Torpedo zu versenken. Spicer ließ das Fallreep hinunter und hieß die Ladies an Bord seines Flaggschiffes willkommen, führte sie unter Abgabe zahlreicher nautischer Belehrungen vom Heck bis zum Bug und gab einem bereitstehenden Kanonier mit einem lässigen Fingerzeig Befehl, zu Ehren der Damen einen kleinen Böllerschuss abzufeuern. Dann führte er die Besucherinnen in die Offiziersmesse, wo sie vom Steward mit Tee und Keksen bewirtet wurden, während zur gleichen Zeit in rasch abnehmender Entfernung Kapitänleutnant Forstmann schwer mit der hohen See und dem stürmischen Südwestwind zu kämpfen hatte. Auch die Damen bekamen den Wellengang zu spüren, wurden nach kurzer Zeit bleich um die Nasen und äußerten lebhaft den Wunsch, doch recht bald zurück zum Pier gebracht zu werden, was ihnen Spicer nachsichtig lächelnd gewährte. Während sie ins Landungsboot stiegen, beschloss Kapitänleutnant Forstmann, mit der U12 in der schmalen Fahrrinne, die zwischen der Küste von Kent und den Goodwin-Sandbanken zur Themsemündung führte, Schutz vor dem Sturm zu suchen; und tatsächlich war der Seegang dicht unter Land viel ruhiger. Forstmann sah durchs Sehrohr mehrere Dampfer und Segler, aber kein Kriegsschiff vor Anker liegen. Inzwischen war Oberleutnant Spicer mit seinen Begleiterinnen am Pier angekommen und spazierte hinüber zum nahegelegenen Hotel Royal, wo er am Vortag über Funk einen Tisch im Speisesaal hatte reservieren lassen. Der Tisch stand am Fenster, und die Sicht hinaus aufs Wasser, wo die HMS Niger friedlich vor Anker lag, war herrlich. Während die Herrschaften Platz nahmen, erhielt Kapitänleutnant Forstmann von seinem Steuermann die Meldung, dass man in spätestens zehn Minuten umkehren müsse, da oberhalb von Deal das Wasser zu flach werde. Schon konnte Forstmann an Backbord vier Strich voraus die kleine Stadt mit ihren weißen Häusern sehen, ein paar Schornsteine und die Kirchtürme, den Pier und wohl auch das Hotel Royal, dann ein paar vor Anker liegende Dampfschiffe, Segelyachten und noch mehr Dampfer und noch mehr Segler, aber kein Kriegsschiff weit und breit. Dicht vor Deal lag ein grünes Wrackschiff. Forstmann wollte schon Befehl zum Umkehren geben – da kam hinter dem Wrack ein weiteres Schiff zum Vorschein, das auffällig flach, von grauer Farbe und bei genauem Hinsehen auf der Back und am Heck mit schweren Geschützen bestückt war.
    Während also im Speisesaal des Hotel Royal Geoffrey Spicer Simson um zwölf Uhr mittags mit napoleonischer Geste die Speisekarte bestellte, dann den Damen ein Referat über die Lachszucht in Norwegen hielt, dem bedauernswerten Kellner die Fliege zurechtrückte und eine neue Tischdecke anforderte, weil diese nicht ganz sauber sei, ließ Kapitänleutnant Forstmann ein Bugrohr klarmachen, fuhr auf tausendachthundert Meter heran, brüllte: «Los!» und verfolgte durchs Sehrohr die Bahn des Torpedos, der hoch aufspritzend die Wasseroberfläche durchbrach, ansonsten aber schnurgerade auf Kurs blieb. Es gab einen scharfen, auch im Hotel Royal gut hörbaren Knall, und dann stieg vor der Kommandobrücke der Niger eine weiß-schwarze Sprengwolke auf, die bald das ganze Schiff verhüllte, sich dank der starken Brise aber rasch wieder verzog, sodass Spicer schon wieder ziemlich freie Sicht hatte, als seine zweiundneunzig an Bord verbliebenen Matrosen ins eiskalte Wasser sprangen, sein Flaggschiff sich vornüber neigte und sich anschickte, im Lauf der nächsten zwanzig Minuten auf den Grund des Ozeans zu sinken. Während der Kellner wie befohlen das Gedeck abtrug und eine neue Tischdecke auflegte, rannte Spicer Simson, gefolgt von den zwei Damen, hinaus an den Strand. Derweil ließ Kapitänleutnant Walter Forstmann die U12 in große Tiefe gleiten, wartete die Nacht ab und fuhr dann zurück nach Zeebrügge, wo ihm anderntags in

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