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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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vom Leibe zu halten; diese Bataille hat wohl eine Stunde gedauert. Zugunsten der Geier kann ich nur sagen, dass sie die einzigen mir bekannten Tiere sind, die mit den Spuckschlangen aufräumen. Habe ich Dir schon von den Spuckschlangen berichtet? Sie sind sehr gefährlich. Ihr Biss ist unbedingt tödlich, und außerdem haben sie die unangenehme Gewohnheit, Menschen und Tieren auf ziemliche Entfernung mit absoluter Treffsicherheit in die Augen zu spucken, was entweder zur Erblindung führt oder wenigstens schwere Qualen zur Folge hat. Hiergegen gibt es nur ein Mittel: sofortige Befeuchtung der Augen mit frischer Muttermilch. Die Schwierigkeit ist nur die, dass man auf der Jagd nicht immer gleich eine Amme oder eine junge Mutter zur Hand hat; und selbst wenn, wäre es immer noch fraglich, ob die Frau in der gebotenen Eile verstünde und auch guthieße, was man von ihr verlangt.
    Einigermaßen gefahrlos kann ich die Natur nur in meinen vier Wänden genießen. Beispielsweise zieht jeden Abend um exakt viertel nach sechs ein Schwarm Nashornvögel über mein Dach hinweg und kreischt dabei ganz jämmerlich wie eine Horde Kleinkinder. Und zweimal am Tag – ebenfalls jeweils um die selbe Uhrzeit – durchquert ein Zug von Milliarden kleiner Ameisen mein Haus, kommt durch eine Ritze auf der Vorderseite hinein und marschiert stramm gerade aus, lässt sich durch nichts stören und durch keinerlei Verlockung, weder durch Zucker noch Mehl oder Mangomus, vom Weg abbringen und verschwindet durch eine Ritze an der Rückseite. Übrigens findet die Wanderung rätselhafterweise stets nur in der einen, nie in der entgegengesetzten Richtung statt. Ich habe mich oft gefragt, wo wohl der Rückweg der Tierchen durchführt, habe ihn lange gesucht und nicht gefunden, sodass ich mittlerweile zur Ansicht neige, dass es sich jeweils gar nicht um das gleiche Ameisenvolk handelt, sondern stets um ein neues. Aber woher dann die Übereinkunft zwischen den Völkern, mein Haus zweimal täglich zu festgesetzten Uhrzeiten zu durchqueren?
    Ich denke oft an Dich und die Kinder und bin froh, bereits die Hälfte meiner Verbannung abgesessen zu haben. So ein Jährchen geht doch rasch vorüber, besonders in unserem Alter. Schade ist nur, dass seit mehr als drei Monaten kein Brief von Dir mehr hier angekommen ist. Gewiss schreibst Du mir oft, da bin ich ganz ruhig, aber irgendwo bleiben die Briefe halt liegen, vielleicht in Hamburg oder Marseille oder Daressalam, oder sie fahren versehentlich im Postschiff weiter ums Kap der Guten Hoffnung bis nach Windhoek. Was weiß ich. Wahrscheinlich treffen sie dann alle aufs Mal hier ein, womöglich erst, wenn ich schon weg bin. Man muss es nehmen, wie’s kommt. Jedenfalls kann ich Dir sagen, dass ich nach wie vor gesund und munter bin, und dass ich hoffe, Euch zuhause gehe es ebenso, und dass ich mich darauf freue, bald wieder mit Dir zum Pilzesammeln in unser Papenburger Moor zu gehen. Weißt Du, wenn ich hier so sitze und all die bunten Viecher um mich her betrachte, muss ich daran denken, dass unser graubraunes Papenburger Moor vor zehntausend Jahren genauso bunt und vielgestaltig war, und dass der ostfriesische Torf unter unseren Füßen aus nichts anderem besteht als aus den sterblichen Überresten von Schilfrohr, Binsen, Schachtelhalm, Riesenfarnen und schwimmenden Blumen, die milchweiß und groß wie Schüsseln waren, und dass haarige Palmenschäfte unter dickdunstigem Himmel nah und fern emporstrebten aus Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, in denen hochbeinige, bunt schillernde Vögel mit unförmigen Schnäbeln staksten und die Luft von Milliarden Mücken, Fliegen, Faltern und Libellen in allen Größen sirrte, gesäumt von Urwäldern aus Erlen und Birken, in denen Mammuts, Waldnashörner und Riesenhirsche grasten, Säbelzahnkatzen durchs Gebüsch schlichen, Löwen brüllten, Hyänen lachten und Riesenechsen sich an sandigen Ufern sonnten. Du siehst, in unserem wässrigen Papenburger Moor liegt genauso viel Poesie wie in den Dschungeln Afrikas, und seine Kanäle sind genauso kostbar wie die todbringenden Wasserstraßen Venedigs. Mal sprießt der Farn hier und versinkt dort alles im Schlamm, dann müssen nur mal tausend Jahre vergehen, und schon wimmelt es von Leben da, wo eben noch Einöde war, und herrscht dort der Tod, wo gerade noch der Dschungel wucherte. Das ist alles nur eine Frage der Zeit.»
     
     
    So strömten die Worte, gelesene und eigene, mit Leichtigkeit aus Tellmann heraus, während

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