Eine Frage der Zeit
allerhöchstem Auftrag das Eiserne Kreuz überreicht wurde. Geoffrey Spicer Simson hingegen hatte die unangenehme Pflicht, vor dem Kriegsgericht darzulegen, aus welchen Gründen die Niger an jenem Morgen ausgerechnet in Deal vor Anker gelegen hatte, und warum ihr Kommandant sich zum Zeitpunkt des Unglücks nicht auf der Kommandobrücke, sondern in Damenbegleitung im Speisesaal des Hotel Royal aufgehalten hatte. Er kam mit einem scharfen Verweis davon, eine eigentliche Dienstpflichtverletzung wurde ihm nicht zur Last gelegt. Aber er wurde seines Kommandos enthoben und nach London zum Schreibdienst in ein kleines Büro in einem Seitengebäude des Marineministeriums befohlen.
Außer den Soldaten wollte am Tanganikasee Anfang August 1914 niemand so recht glauben, dass tatsächlich Krieg war. Zwar war es besorgniserregend, dass die Telegraphenstation von Kigoma plötzlich tot war, und dass es im Ort von Marinesoldaten und Askari wimmelte, und dass die Konsuln der benachbarten Kolonien über Nacht alle verschwunden waren. Aber der See lag da in gewohnter Ruhe, und die Menschen gingen ihren immergleichen Beschäftigungen nach, und in der Steppe äste das Wild. Im Hafen lag in friedfertiger Erbärmlichkeit die deutsche Wissmann neben der belgischen Alexandre Delcommune, die wie üblich etwas Kohle für die Wissmann aus Belgisch-Kongo herübergebracht hatte. Auf der Werft nebenan ging die Arbeit an der Götzen zügig voran. Nach und nach war in den letzten Wochen ihr schwarzes Gerippe hinter glatten Platten verschwunden, blendend weiß grundiert lag ihr Rumpf auf der Helling, die zwei Dampfmaschinen befanden sich fest montiert im Maschinenraum, vor Wind und Wetter geschützt im Zwischendeck, über dem sich schon ein Teil des Hauptdecks spannte. Anton Rüter hatte sich daran gewöhnen müssen, dass auf seiner Werft jetzt dauernd Soldaten umherlümmelten, die ungefragt Werkzeug borgten und nicht mehr zurückbrachten, und dass die Kerle abends mit Eingeborenenmädchen auf der Götzen umherturnten, um einen schönen Ausblick auf den Sonnenuntergang zu haben, und dass sie ihre Zigarettenstummel überall hinschnipsten und im Schatten des Schiffsrumpfs gegen die Rollwagen urinierten. Die Soldaten waren jetzt überall. Zwar wusste noch niemand mit Sicherheit, ob tatsächlich Krieg war, aber man konnte fühlen, dass er mit jedem Tag weiter um sich griff, und dass bald nichts von all dem, was bisher gegolten hatte, noch von Bedeutung sein würde. Der Krieg erfasste alles und machte sich alles Untertan. Die Menschen waren nicht mehr Menschen, sondern Soldaten oder Zivilisten. Die Landschaft war keine Landschaft mehr, sondern der Raum zwischen Schützengräben, Maschinengewehrnestern und Straßensperren. Und die Zeitspanne zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang war kein Tag mehr, sondern die Frist zwischen Zapfenstreich und Ausgangssperre.
Auch Rüter, Wendt und Teilmann mussten sich dem Krieg unterwerfen. Sie waren jetzt keine Papenburger mehr, sondern Reichsdeutsche, und die Götzen war kein unfertiges Fracht-und Fährschiff mehr, sondern ein Kreuzer der Kaiserlichen Kriegsmarine. Als eine glückliche Fügung stellte es sich immerhin heraus, dass der Befehlshaber der in Kigoma stationierten Truppen, Kapitänleutnant zur See Gustav von Zimmer, ein alter Bekannter aus Daressalam war. Er stattete den Papenburgern gleich am Tag seiner Ankunft einen Besuch auf der Werft ab, entsann sich freundlich jener trunkenen nächtlichen Kegelpartie an Kaisers Geburtstag und gratulierte Anton Rüter nachträglich zum Sieg. Aber dann wurde er dienstlich und erkundigte sich streng nach dem Fortschritt der Götzen, ließ sich auf dem Deck umherführen und besichtigte den Maschinenraum. Als Rüter sich in technischen Details verlor, unterbrach er ihn und wollte wissen, wann mit dem Stapellauf zu rechnen sei.
«Schwer zu sagen», antwortete Rüter vorsichtig. «Es dauert hier alles ein wenig länger als zu Hause. Die Deckaufbauten werden noch eine Weile in Anspruch nehmen. Dann folgt der Einbau der Antriebswellen, der elektrischen Einrichtungen, der Dampfwinden und der Ruderanlage, der Passagierkabinen…»
«Vergessen Sie die Kabinen, Rüter. Es gibt keine Passagiere mehr. Wie viele Tage, frage ich Sie.»
«Schwer zu sagen», wiederholte Rüter. «Das ist keine Sache von Tagen, sondern von Wochen und Monaten.»
Kapitänleutnant von Zimmer legte die Stirn in Falten und schwieg. Dann reckte er das Kinn und maß Rüter mit einem scharfen
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