Eine Frage der Zeit
jeden seiner Artikel.“ Er klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Folgen Sie mir, ich habe das Besprechungszimmer im dritten Stock neben dem Büro des Oberbürgermeisters reserviert, dort können wir uns in Ruhe unterhalten.“
Meister ging voran die Treppe hinunter. Hinter seinem Rücken warf Marcks ihrem Kollegen einen vielsagenden Blick zu. Sie hielt den Presseamtsleiter offenbar für etwas unterbelichtet. Velten wusste, dass sie ihm damit in die Falle gegangen war. Der drahtige Zweiundsechzigjährige mit den schlohweißen Haaren und dem gepflegten Oberlippenbart steuerte die Medienarbeit des Rathauses schon seit einem Vierteljahrhundert. Er hatte in dieser Zeit mehrere Oberbürgermeister überlebt und drei politische Farbwechsel im Stadtrat unbeschadet überstanden. Neben seiner Arbeit in der Stadtverwaltung war er als Autor historischer Sachbücher tätig. Im Mittelpunkt der auch unter Historikern respektierten Werke stand die Aufarbeitung der NS-Geschichte Waldenthals und der Westpfalz. Velten hielt ihn für einen hellen Kopf und cleveren Strategen, der klug genug war, den Menschen in seiner Umgebung das Gefühl zu vermitteln, sie seien ihm intellektuell mindestens ebenbürtig
Vom Besprechungsraum hatte man einen großartigen Blick auf den Rathausplatz. Marcks schob eine Gardine zur Seite und betrachtete die Szene: „Dieser Turm und die Kolonnaden sind sehr... außergewöhnlich“, sagte sie an Meister gewandt.
Der verzog gequält die Mundwinkel: „Das haben Sie sehr nett formuliert, Frau Marcks. Ich hatte dem damaligen Oberbürgermeister prophezeit, dass er sich mit diesem Projekt lächerlich machen würde, aber er glaubte, es besser zu wissen. Er ist längst tot, aber die Stadt wird für die nächsten Jahrhunderte mit seinem Platz leben müssen. Wir können die Amerikaner ja schlecht bitten, unsere Stadtmitte ein zweites Mal in Schutt und Asche zu legen, nicht wahr?“
„Es wäre einen Versuch wert“, antwortete Marcks trocken. Velten nahm sich vor, sie bei nächster Gelegenheit über die Vorzüge diplomatischer Umgangsformen zu informieren.
Nachdem Meister sie an den Besprechungstisch gebeten und mit Kaffee versorgt hatte, kam er ohne weitere Umschweife auf den Grund ihres Besuchs zu sprechen: „Sie recherchieren über den Bilderraub im Stadtmuseum in den neunziger Jahren? Was möchten Sie wissen?“
Velten berichtete ihm, dass der vor kurzem ermordete Martin Rothaar vermutlich in dieses Verbrechen und in die Morde an Konstantin Landau und Alexander Stürmer verwickelt war. „Was können Sie uns über den Diebstahl der Hofstetter-Gemälde sagen? Wir kennen nur die offiziellen Statements.“
Meister lehnte sich zurück und dachte einen Moment mit geschlossenen Augen nach. „Die Hofstetter-Sammlung war uns, also der Stadt Waldenthal, in den frühen neunzehnhundertsiebziger Jahren von einem wohlhabenden Industriellen vermacht worden. Wir kennen seinen Namen, dürfen ihn aber nicht nennen. So hat er es in seinem Testament verfügt. Die Bilder hingen rund zwanzig Jahre im Museum. Wir hatten dafür eigens ein ganzes Stockwerk freigeräumt. Natürlich war die ganze Etage extrem gut gesichert. Johannes Hofstetter war einer der renommiertesten Maler des Biedermeier. Seine Werke sind zwar nicht so bekannt wie die von Spitzweg, aber die Preise für seine Gemälde sind dennoch beachtlich. In den neunziger Jahren mussten Teile des Museums renoviert werden. Dazu war es nötig, die Alarmanlage vorübergehend abzuschalten. Das machten sich die Diebe offenbar zunutze. Sie überwältigten einen Wachmann, verschafften sich Zugang zu den Ausstellungsräumen und verschwanden mit einigen der teuersten Bilder.“
„Dieser Wachmann hieß Martin Rothaar“, erklärte Velten. „Die Polizei verdächtigte ihn damals, die Täter eingelassen zu haben.“
„Und das ist tatsächlich der gleiche Rothaar, der am Montag tot aufgefunden wurde?“
„Ja, das ist er. Und da er womöglich auch in die Ermordung von Konstantin Landau und den Raub seiner Bilder verwickelt war, interessieren wir uns natürlich wieder für den Diebstahl der Hofstetter-Gemälde.
„Verstehe. Was möchten Sie noch wissen?“
„Einige der Hofstetter-Bilder wurden unlängst in den Vereinigten Staaten beschlagnahmt, nachdem die Leiterin des Waldenthaler Museums Fotos der Gemälde auf der Homepage eines Auktionshauses entdeckt hatte. Ist bekannt, wie das Diebesgut in die USA gelangt ist?“
„Die Polizei ging in den neunziger Jahren
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