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Eine Frage der Zeit

Eine Frage der Zeit

Titel: Eine Frage der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Sander
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nicht.“
    Velten lachte schallend. Marcks reagierte wie jeder Ortsfremde, der zum ersten Mal mit Waldenthals Stadtmittelpunkt konfrontiert wurde. Der große rechteckige Platz vor dem vierstöckigen und mit Blumenkästen behangenen Rathaus wurde umrahmt von trister Fünfziger-Jahre-Bebauung ohne jeden ästhetischen Reiz. Das unterschied die Stadt natürlich nicht von anderen Orten, deren historischer Kern im Krieg zerstört und danach eher schnell als liebevoll wieder aufgebaut worden war. Doch das Zentrum dieses Platzes wurde von einer kreisrunden, gepflasterten Fläche gebildet, die an den Seiten von zwei gigantischen, pseudoantik anmutenden Säulengängen aus rotem Sandstein begrenzt wurde. Im Mittelpunkt befand sich ein Brunnen, aus dem eine etwa fünfzehn Meter hohe Stahlkonstruktion ragte, die entfernt an einen Bohrturm erinnerte. Das ganze Ensemble wirkte, als hätte ein tollpatschiges Riesenkind mit Bauklötzen und einer alten Weihnachtsbaumspitze den vatikanischen Petersplatz mitsamt des Obelisken im Maßstab eins zu zehn nachgebaut.
    Marcks betrat den Platz, drehte sich einmal um die eigene Achse und betrachtete alles mit offenem Mund: „Wer hat denn diese Scheußlichkeit verbrochen?“, fragte sie entsetzt.
    Velten erzählte ihr, dass der Platz in den neunzehnhundertneunziger Jahren von einem früheren Oberbürgermeister erdacht worden war, der sich damit wohl vor seinem Rathaus ein Denkmal setzen wollte. Als die Bauarbeiten abgeschlossen waren, herrschte in der Stadt in Anbetracht des Ergebnisses allgemeine Fassungslosigkeit. Eine Welle von Hohn und Spott war damals über Waldenthal hereingebrochen. Sogar internationale Architekturzeitschriften hatten dem „Rom im Pfälzerwald“ ganze Doppelseiten gewidmet, in denen die astronomischen Kosten kritisiert und die gleichermaßen größenwahnsinnige wie armselige Analogie zum Petersplatz beschrieben wurde.
    Den Waldenthalern war ihr Rathausplatz anfangs schrecklich peinlich gewesen, doch inzwischen hatten sie sich an die monumentale Geschmacklosigkeit in ihrer Stadtmitte gewöhnt und ertrugen die Kommentare auswärtiger Besucher mit der ihnen eigenen stoischen Gelassenheit.
    Nachdem Marcks sich sattgesehen hatte, überquerte sie mit Velten den Rathausplatz. Die beiden betraten die Stadtverwaltung. In dem massiv gebauten Gebäude war es einige Grad kühler als auf dem flirrend heißen Platz. Mit dem Aufzug fuhren die beiden Journalisten ins Dachgeschoss im vierten Stock, wo das Presseamt untergebracht war. Als sich die Lifttür öffnete, liefen sie Frank Meister direkt in die Arme. Der leutselige Pressesprecher des Rathauses begrüßte Velten, der ihm Marcks vorstellte.
    Meister ergriff ihre Hand. „Herzlich willkommen in Waldenthal. Ich habe schon viel Gutes über sie erfahren.“
    Marcks war von der überschwänglichen Begrüßung ein wenig überrumpelt: „Tatsächlich?“
    „Natürlich. Als mir Dieter Kreuzer, erzählte, dass Sie beim Morgenkurier anfangen, war ich natürlich neugierig und habe mich im Internet ein wenig schlau gemacht. Ihr Artikel über japanische Touristen im Mainzer Karneval war großartig, ich habe Tränen gelacht. Schön, dass Sie jetzt in Waldenthal arbeiten. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl bei uns.“
    „Ja, sehr“, antwortete Marcks und strahlte ihn an. „Für einen Lokaljournalisten herrschen hier paradiesische Zustände. Ich bin erst ein paar Tage in der Stadt und habe schon über ein paar Morde und zwei unaufgeklärte Kunstdiebstähle geschrieben. In Mainz lasen sich die Polizeimeldungen bei weitem nicht so spannend wie hier.“
    Frank Meisters Gesichtzüge entgleisten und Velten konnte hätte um ein Haar laut losgelacht. Der Pressesprecher brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sortieren: „Bitte bekommen Sie keinen falschen Eindruck von unserer Stadt. Die Kriminalitätsrate von Waldenthal ist eine der geringsten unter allen kreisfreien Städten in Rheinland-Pfalz. Oberbürgermeister Dubois und Polizeipräsidentin Räder legen großen Wert auf Prävention und vor allem auf vorbeugende Jugendarbeit. Herr Velten kann Ihnen das sicher bestätigen.“
    „Es gab im letzten Jahr drei Pressekonferenzen mit Dubois und Räder zu diesem Thema“, antwortete Velten ausweichend.
    Meister breitete die Arme aus: „Sehen Sie, Frau Marcks, alles in bester Ordnung. Sie haben wirklich Glück, dass Sie mit Max Velten zusammenarbeiten dürfen. Er ist die Edelfeder des Morgenkurier . Ich bin ein großer Fan von ihm und lese wirklich

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