Eine Frage des Herzens
einzubeziehen. Es konnte klappen, trotz alldem …
»Komm schon, Onkel Tom. Was ist jetzt mit der Weinlese?«
»Es geht nicht, Regis. Ich habe etwas Wichtiges in Newport zu erledigen. Und ich brauche deine Hilfe …«
»Natürlich. Worum geht es denn?«
»Ich erkläre dir alles. Wir müssen uns jedoch zügig ans Werk machen, uns bleibt nur ein Tag. Das Ganze muss morgen über die Bühne gehen …«
Als sich Regis und ihre Freundinnen um ihn scharten, aufmerksam lauschend, weihte Tom sie in seinen Plan ein.
Der nächste Morgen – ein Samstag – brach an, ein klarer wolkenloser Tag mit dem für Oktober typischen goldenen Herbstlicht, das sich über Hügel und Felder breitete. Der Sonnenaufgang war die friedvollste Zeit für Schwester Bernadette, und sie versuchte stets den Tag mit einem Gebet und Dankbarkeit zu begrüßen, während sie über das Anwesen der Academy schlenderte.
Die Sonne ging über dem Long Island Sound auf, erhellte die sich kräuselnden Wellen, den Strand und die Steinmauer, die sich den Weinberg hinaufschlängelte. Bernie stand auf dem Gipfel der Anhöhe und blickte auf das Wasser hinaus. Sie hatte heute, genau wie immer, sehr viele Anliegen, die sie in ihr Gebet einschließen wollte. Sie bat inständig und von ganzem Herzen um Erleuchtung durch den Heiligen Geist, um das göttliche Licht Christi, des Erlösers, und um Frieden für alle Menschen, die sie liebte, für die ganze Welt. Vor allem aber für Tom und Seamus.
Als sie aufs Wasser hinausblickte, sah sie, wie die Oberfläche sich veränderte, von Orange zu Hellblau wechselte. Der Herbst hatte begonnen, und ein Wetterumschwung lag in der Luft. Die vom Meer herüberdriftende Kühle erinnerte sie an einen Spaziergang auf den Klippen im Mai, als Tom und sie ihren Sohn gezeugt hatten.
Während sie die beiden in ihr Gebet einschloss, dachte sie an die Liebe, die sie seit jeher mit Tom verband. Sie wusste, dass die Reise nach Dublin alte Wunden aufgerissen hatte und er nun litt. Sie betete, dass seine Entscheidung, Star of the Sea zu verlassen, ein erster Schritt zur Heilung war und dass er, wo immer er sich auch befinden mochte, Fortschritte auf diesem Weg machte.
Sie seufzte, bekreuzigte sich und kehrte zum Kloster zurück, um sich auf die Weinlese vorzubereiten. Das Land war eine Gottesgabe. Hier war ihr Maria erschienen und ein Wunder geschehen. Wie hatte sie jemals daran zweifeln oder sich beklagen können? Star of the Sea war ein Sanktuarium für die müden Wanderer auf dieser Erde, ein Zufluchtsort für die Einsamen, eine Heimstatt für die Verlorenen. Gottes Liebe und Gegenwart waren allzeit spürbar, und die heutige Weinlese war ein perfektes Symbol für die Fülle des Lebens, die allen zuteil wurde.
An einem so herrlichen Morgen hatte Bernie ein schlechtes Gewissen wegen des Gefühlswirrwarrs, das in ihrem Inneren herrschte. Die letzten Tage waren hart gewesen. Das Wissen, dass Tom fort war und sie keine Gelegenheit mehr hatte, ihn mit seiner Schubkarre auf dem Hügel oder in einer der Talsenken zu sehen, erfüllte sie mit Kummer. Sosehr sie sein Bedürfnis auch verstand, eine räumliche Trennung zu vollziehen, spürte sie, dass sie mit aller Macht dagegen ankämpfte. Er gehörte hierher – Star of the Sea war in gleichem Maße sein Zuhause wie ihres.
Die einer Nonne mit Sicherheit nicht geziemende Wahrheit war, dass sie nicht wusste, wie sie ohne ihn weiterleben sollte. Sie war vor dreiundzwanzig Jahren ins Kloster eingetreten, unmittelbar nachdem sie ihren Sohn zur Adoption freigegeben hatte. Im Anschluss an das Noviziat in Dublin war sie hierhergekommen, ins Star of the Sea. Sie hatte das erste Jahr in Klausur verbracht und im Lauf des nächsten Jahres als Postulantin den Entschluss gefasst, die abgeschiedene Welt hinter den Klostermauern zu verlassen und sich der größeren Gemeinschaft anzuschließen.
Schwester Bernadette Ignatius hatte hier im Star of the Sea sechs Jahre später ihre feierliche Profess abgelegt, das Gelübde, das sie auf Lebenszeit an den Orden band. Blaugetönte Buntglasfenster, dunkles, geöltes Holz und der Marmoraltar bildeten einen würdigen Rahmen für die Zeremonie. Der Erzbischof hatte das Pontifikalamt gehalten, als sieben Frauen dem Orden Notre Dame des Victoires beitraten. Jede erhielt einen silbernen, von ihm gesegneten Professring, der Keuschheit symbolisierte, das Siegel des Heiligen Geistes. Durch diesen Ring war jede Ordensfrau mit Jesus Christus vermählt.
Bernies Familie
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