Eine Frage des Herzens
die Sargträger hinter dem Leichenwagen Aufstellung nahmen – John und die Kellys. Sixtus, Niall und Billy sahen ernst zu Seamus herüber. Er erwiderte ihre Blicke.
»Dass Kathleen und ich wieder zusammen sind, das ist ein Geschenk meines Vaters«, sagte er.
»Ach Seamus.« Bernies Augen füllten sich mit Tränen. Sie hörte zum ersten Mal, dass er Tom so nannte.
»Und von dir, meiner Mutter …«
Bernie nickte, und Tränen liefen über ihre Wangen. Seamus ergriff ihre Hand. John hatte recht gehabt – es taute, das Eis hatte sich in Regen verwandelt, ein kalter Nieselregen, der ihre Gesichter netzte. Er drang bis zu den Wurzeln der Pflanzen vor, die Tom liebevoll gehegt und gepflegt hatte. Der Regen roch nach Salz, das vom Meer herüberwehte.
»Bist du bereit?«, fragte Seamus nun.
Sei bereit
…
»Ich denke schon«, flüsterte Bernie.
In der Kapelle hatte die Orgel zu spielen begonnen. Die Klänge drifteten durch die geöffnete Tür in den kalten Regen hinaus, der die Trauergäste zusammenrücken ließ. Die Träger hoben den Sarg auf ihre Schultern. Er enthielt den Leichnam von Tom Kelly, und Bernie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Seamus drückte ihre Hand. Als sie hinunterblickte, sah sie den Wappenring der Kellys an seinem Finger. Und noch mehr Tränen liefen über ihre Wangen.
»Er wartet auf uns«, sagte Seamus leise. »Komm, geben wir ihm das letzte Geleit.«
Seamus’ Hand war genau wie die Toms geformt. Sie durchquerten den Innenhof von Star of the Sea, sein Zuhause, das er so sehr geliebt hatte. John, Chris und die Dubliner Kellys blickten ihnen entgegen.
Bernie sah in Seamus’ Augen. Es war, als wäre es Tom, der ihren Blick erwiderte, mit all der Liebe, die er seit jeher für sie empfunden hatte, für ihren gemeinsamen Sohn, für die Familie, die sie immer waren, auch wenn sie einander aus den Augen verloren hatten. Schwester Bernadette Ignatius atmete tief ein. Dann hakte sie sich bei ihrem Sohn unter, und langsam folgten sie dem Sarg seines Vaters in die Kapelle.
Epilog
D as Baby war vier Monate alt. Es schmiegte sich in die Arme seiner Mutter, als sie den schmalen Saumpfad hoch über dem Meer entlanggingen, während unten die Wellen gegen die Felsen brandeten und die salzige Gischt aufspritzte. Es war wieder Oktober, ein Tag, so strahlend und sonnig, wie der Tag, an dem Tom Kelly beigesetzt wurde, eisig und lichtlos gewesen war.
»Endlich haben wir es geschafft, herzukommen«, sagte Kathleen und wiegte das Baby in ihren Armen.
»Einen besseren Tag hätten wir uns nicht aussuchen können.«
»Ich bin Tom leider nie begegnet«, sagte Kathleen leise. »Ich kannte ihn nur vom Sehen, an dem Tag, als du mich aus Oakhurst gerettet hast. Aber ich konnte mich nicht mehr bei ihm bedanken.«
»Das war genau heute vor einem Jahr«, erwiderte Seamus. Er ging am Außenrand des schmalen Weges, damit Kathleen und das Baby dem Abgrund nicht zu nahe kamen. Im September hatte an der Küste ein verheerender Wirbelsturm gewütet und schwere Schäden angerichtet. Der Saumpfad war stellenweise erodiert, mit tiefen Rinnen, die zum Rand der Klippe abfielen.
»Kaum zu glauben, dass wir noch nie hier waren«, sagte Kathleen und blickte auf die endlose Weite des blauen Meeres hinaus.
»Ja. Dieser Ort ist von großer Bedeutung für uns, in vieler Hinsicht.«
Er holte die Postkarte aus seiner Tasche. Mit Toms Blut gesprenkelt, war darauf haargenau die Szenerie abgebildet, in der sie sich jetzt befanden – pompöse Herrenhäuser und schroffe Klippen, die Wellen des Atlantiks, die sich an den Felsen unter ihnen brachen. Seamus hatte sich schon vor langer Zeit geschworen, einmal hierherzukommen. Er dachte an Dublin, an all die Tage, als er die Karte betrachtet und Kathleens Anziehungskraft gespürt hatte.
»Was meinst du, warum ist Tom wohl an jenem Tag hierhergekommen?«, fragte Kathleen.
Seamus antwortete nicht gleich. Sie gingen langsam, spürten die Sonne auf ihren Gesichtern, die hoch aufspritzende salzige Gischt, die der Wind mit sich trug. Er dachte an den Tag vor einem Jahr zurück. Die Luft war eisig gewesen, ein Sturm braute sich hinter der Kaltfront zusammen, als wäre das Wetter ein unheilvolles Omen gewesen.
»Vielleicht unseretwegen«, erwiderte er zweifelnd, weil ein anderer Gedanke an ihm nagte. »Wegen der Postkarte, weil er wusste, welche Bedeutung sie für mich besaß.«
»Ist er deshalb mit Bernie hierhergefahren?«
»Ich denke schon. Ich glaube, das war für ihn eine
Weitere Kostenlose Bücher