Eine Frage des Herzens
jährte, den Cliff Walk entlanggingen, hatte Seamus einen Kloß im Hals.
»Ich glaube, hier ist es.« Er sah sich um. Bernie hatte die Stelle, an der Tom gestorben war, beschrieben, und er hatte sich jede Einzelheit gemerkt. Er spähte die steile Klippe hinab, blickte zum blauen Himmel empor und versuchte die Gegenwart seines Vaters zu spüren.
»Alles in Ordnung, Liebster?« Kathleen ergriff seine Hand.
Seamus nickte, obwohl es nicht stimmte. Seit besagtem Abend im Garten im vergangenen März hatte er stets das Gefühl gehabt, sein Vater sei bei ihm. Doch hier und jetzt, an diesem Ort, der Tom Kelly heilig gewesen war, spürte er nicht das Geringste von ihm. Es war, als hätte er den Schauplatz der Tragödie und Trauer gewählt, um sich von ihm zu verabschieden. In diesem Augenblick wachte Thomas auf. Er stieß einen leisen Schrei aus, hob den Kopf und blickte sich um.
»Hallo, mein Süßer«, murmelte Kathleen. »Hast du gut geschlafen?«
Seamus nahm ihr das Baby ab und hielt es in den Armen. Das Sonnenlicht funkelte auf dem Wasser der weitläufigen blauen Bucht, und Thomas kniff die Augen zusammen. Seamus lächelte, küsste das Kind auf den Kopf und spürte, dass ihn Kathleens Arm umfasste. Seine Empfindungen waren bittersüß – einerseits war er glücklich, mit seiner Familie hier zu sein, andererseits fühlte er sich verloren und traurig, weil ihm Toms Gegenwart fehlte.
»Wir sollten aufbrechen«, sagte Kathleen. »Ich glaube, er hat Hunger.«
»Ja, du hast recht.« Seamus blickte sich ein letztes Mal um.
»Ich weiß, wir sind hergekommen, um uns vor der Rückreise nach Irland den Cliff Walk anzusehen.« Kathleen legte ihren Arm um seinen Hals. »Aber ich habe das Gefühl, du hältst nach etwas anderem Ausschau.«
»Kann sein«, gestand Seamus, ihren Blick erwidernd.
»Du wolltest dich von deinem Vater verabschieden, oder?«
Seamus nickte und küsste erneut Thomas’ Köpfchen, während sein Blick unverwandt auf Kathleen ruhte. Sie hatte ihn seit jeher verstanden. Sie schien zu wissen, was die Begegnung mit seinen Eltern für ihn bedeutete, obwohl er nie ein Wort darüber verloren hatte.
»Man muss sich nicht verabschieden«, sagte Kathleen.
»Wie meinst du das?«
»Er ist bei dir, Seamus, so wie wir beide miteinander verbunden waren, auch in der Zeit der Trennung.«
Seamus blickte in ihre Augen und entdeckte darin eine Eindringlichkeit, die er selber verspürte. Er wusste, was sie meinte, und dennoch … Er hatte seinen Vater so kurz gekannt, dass es ihm grausam schien, wie Hohn, ihm überhaupt begegnet zu sein.
Ihn schauderte, als wäre jemand über sein Grab gelaufen. Er hatte Respekt vor Geistern, wie alle Iren, und ihm war, als würde ihn ein eisiger Hauch streifen. Vielleicht handelte es sich um eine atmosphärische Störung, obwohl die Sonne schien. Er wandte den Kopf und erblickte einen Spaziergänger in einem alten Tweedjackett mit Hut, der gerade um die Ecke bog. Er schritt zügig aus, doch da der Pfad durch das Unwetter schmaler und unwegsamer geworden war, galt es, sich auf engstem Raum aneinander vorbeizuschieben. Der Gedanke machte Seamus nervös, doch Kathleen schien sich der Gefahr nicht bewusst zu sein. Er trat einen Schritt zurück, und in diesem Moment schob sich der Mann zwischen Kathleen und ihn.
Er blieb abrupt stehen, mitten auf dem Weg. Sein Gesicht war vom Hut überschattet, doch Seamus spürte seinen Blick. Als er das alte Tweedjackett in Augenschein nahm, sah er, dass der rechte Ärmel ausgefranst war. Er schnappte nach Luft; aus diesem Blickwinkel hatte er keine gute Sicht, aber er versuchte zu erkennen, ob sich am linken Aufschlag des Jacketts Blutflecken befanden.
»Sag deiner Mutter, dass sie schön ist«, bat der Fremde. Seine blauen Augen leuchteten unter der Hutkrempe. »Und sag ihr, dass ich auf dem Klippenpfad in Doolin auf sie warte.«
»Tom«, keuchte Seamus.
Der Mann blickte Seamus unvermittelt in die Augen. Er schien ihn zu begutachten und sich gleichzeitig jede Einzelheit einzuprägen. Seamus schauderte – das Gesicht des Mannes befand sich im Schatten, doch seine Augen waren unverkennbar.
»Es ist wichtig«, sagte Tom Kelly. »Wirst du ihr das ausrichten?«
»Doolin?«
»Ja, mein Sohn. Sie kennt den Ort. Sag ihr, sie möge der Musik folgen. Und ich werde sie auch nach Tir na Nog bringen. Sie weiß, was damit gemeint ist.«
Seamus nickte stumm. Tom meinte offenbar nicht die Insel der Gesegneten, das mystische Elfenland, sondern einen
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