Eine Frage des Herzens
Bestätigung. Das war alles. Deshalb habe ich kurz nachgeschaut.«
»Wie lautete ihr Name?«, fragte Bernie.
»Schwester Theodore.«
Bernie bedankte sich bei den beiden Nonnen, tonlos, gleichgültig. Für sie schien alles vorbei zu sein. Tom hielt ihr die Tür auf, und sie gingen die Treppe hinauf. In der Haupthalle angelangt, fühlte Tom sich wie befreit. Voller Energie und Tatkraft, bereit für den nächsten Schachzug.
»Ich hole meine Sachen. Dann können wir abreisen«, sagte Bernie.
»Nein, Bernie, kommt nicht in Frage.«
»Was redest du da? Das war’s, Tom.«
Er schüttelte den Kopf und packte sie an den Schultern. Sah sie in seinen Augen, wie es um seine Gefühle bestellt war? Sie versuchte nicht, sich loszureißen, sondern blickte ihn an, scheinbar blind für die Menge, die sich um sie herum drängte.
»In dieser Klinik wurde unser Sohn geboren«, sagte er. »Spürst du ihn?«
»Ich habe ihn gespürt. Aber jetzt nicht mehr.«
»Lass nicht zu, dass sie ihn dir wegnimmt.«
»Sie hat auch die Unterlagen des Krankenhauses in ihren Besitz gebracht. Eleanor Marie. Angeblich, um ihn zu schützen.«
»Sie hat es getan, um dir eins auszuwischen. Genau wie früher.«
»Das ist niederträchtig«, flüsterte Bernie. »Es geht nicht um mich, es geht um
ihn
…«
»Um unseren Sohn.«
Bernie nickte.
»Du wirst dir die Unterlagen zurückholen. Und zwar noch heute Nacht. Wir beide.«
»Tom, wir kehren nach Hause zurück …«
Er hielt sie fest, die Hände auf ihren Schultern, und schüttelte sie sanft. Seine Haut prickelte, als er in ihre Augen blickte. Selbst hier, in der geschäftigen Eingangshalle des Krankenhauses, spürte er den Wind, der vom Atlantik herüberwehte, von den Klippen von Moher, vom anderen Ende Irlands.
Er gehörte zum Long Island Sound und war direkt aus dem Weinberg des Star of the Sea gekommen, eine Meeresbrise, angefüllt mit dem Geruch nach Salz und Trauben. Es war ein vertrauter Geruch, der Geruch ihrer Heimat. In die sie erst zurückkehren würden, wenn sie ihr Vorhaben erfolgreich abgeschlossen hatten.
»Sie hat die Unterlagen nicht vernichtet«, erklärte Tom.
»Doch, das hat sie mir selbst gesagt.«
»Und du glaubst ihr? Überleg doch mal, Bernie. Sie versucht etwas zu verbergen, um jeden Preis, so sehr, dass sie ihre Handlangerin bittet, im Krankenhaus anzurufen, um sich Gewissheit zu verschaffen.«
»Was könnte sie verbergen wollen? In Zusammenhang mit unserem Sohn
?«
»Keine Ahnung. Aber wir werden es herausfinden.«
»Wie denn?« Bernies Augen begannen wieder zu glänzen.
»Das werde ich dir sagen. Wir haben es auf deine Weise versucht, nun versuchen wir es auf meine. Und zwar heute Nacht.«
6
D er Konvent war dunkel. Alle schliefen. Die rote Kerze im Allerheiligsten flackerte, und Bernie bekreuzigte sich, als sie daran vorüberging. Sie war barfuß. Die Schuhe hatte sie in ihrer Zelle zurückgelassen, damit ihre Schritte nicht im ganzen Haus zu hören waren.
Sie eilte durch die Halle, sie wollte Tom nicht warten lassen. Ein Schatten huschte über die Wand, und sie erschrak, doch es war nur ihr Spiegelbild im Glas eines gerahmten Gemäldes vom heiligen Marie-Joseph, dem Gründer des Ordens. Das Licht der Straßenlaternen fiel durch die hohen Fenster an der Frontseite des Hauses auf die Holzfußböden und fadenscheinigen Orientteppiche.
Als sie das Sprechzimmer betrat, sah sie Schwester Anne-Marie, die auf sie wartete. Schweigend nickten sie sich zu, und Anne-Marie ging zur Alarmanlage hinüber. Bernie hatte sie eingeweiht und sich ihrer Hilfe vergewissert – die Anlage, die vor Einbruch schützen sollte, musste ausgeschaltet werden, um Toms Plan ausführen zu können.
Der Konvent besaß einige wertvolle Gemälde und Möbelstücke, Schenkungen von reichen Gönnern, sowie Kelche und andere religiöse Gegenstände aus Gold und Silber. Hier wurden auch die Unterlagen der irischen Ordensgemeinschaft aufbewahrt. Abgesehen davon lebten nur Frauen im Haus, und sogar im Star of the Sea hatte Bernie Vorkehrungen getroffen, um ihre Schwestern zu schützen. Die Alarmanlage war folglich zu erwarten, und Tom hatte sie daran erinnert, dass sie außer Betrieb gesetzt werden musste.
Auf ein Zeichen von Bernie hin tippte Anne-Marie den Code ein. Ein leiser Glockenton erklang, und Bernie, die die Treppe im Auge behielt, zuckte zusammen. Als niemand auftauchte, zog sie bedächtig die schwere Eingangstür auf. Sie steckte den Kopf nach draußen und atmete tief die Nachtluft
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