Eine Frage des Herzens
von Dublin ein. Sie roch nach Meer. Laub raschelte, der Wind frischte auf und wehte durch die Bäume, die den Häuserblock auf beiden Seiten säumten.
Tom wartete auf der anderen Straßenseite. Als er Bernie sah, kam er im Eilschritt herüber und die Treppenstufen hinauf. Das wellige Haar glänzte im Schein der Straßenlaterne, und auch seine Augen glänzten. Er trug Jeans und einen schwarzen Pullover.
»Alles klar?«, fragte er.
Sie nickte. Ihr Mund war so trocken, dass sie kein Wort über die Lippen brachte.
»Hallo, Tom«, flüsterte Schwester Anne-Marie.
»Hi, Annie. Vielen Dank für alles«, begrüßte er sie.
»Keine Ursache. Ich bin auf eurer Seite.«
Bernie wurde warm ums Herz. Anne-Maries Treue und Freundschaft waren trotz der Jahre, die vergangen waren, unverbrüchlich.
»Dann los«, sagte Tom.
Alle drei stiegen die Treppe empor. Tom trug Stiefel, und als er merkte, dass sie bei jedem Schritt ein Geräusch verursachten, zog er sie aus. Anne-Marie fand es komisch, dass drei Menschen barfuß in geheimer Mission durch den Konvent schlichen, und schlug die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Bernie liebte ihren Sinn für Humor. Sie hatten den ganzen Nachmittag zusammengesessen und Pläne geschmiedet, das beste Szenario ausgearbeitet und sich ausgemalt, was Eleanor Marie mit den Unterlagen gemacht haben könnte.
Anne-Marie hatte im Scherz gemeint, vermutlich befänden sie sich unter dem Kopfkissen von Eleanor Marie, und sie müssten ihr den Schädel einschlagen, um die Dokumente an sich zu bringen, doch zuerst gelte es, sich an Schwester Theodore vorbeizumogeln, die in der Zelle nebenan schlief.
»Unser Zerberus«, hatte Anne-Marie gesagt.
»Wozu das denn?«, hatte Bernie gefragt.
»Eleanor Marie hat ein Sicherheitsnetz aufgebaut, gewissermaßen.«
»Und?«
»Was religiöse Dinge betrifft, ist sie ziemlich fanatisch. Sie glaubt mit aller Inbrunst, daran gibt es nichts zu rütteln. Sie hat ausgeprägte Moralvorstellungen und ein Schwarzweißbild von dem, was nach ihrem Empfinden richtig oder falsch ist. Grauzonen existieren nicht für sie, und das kann eine verlockende Einstellung sein. Sie lässt keinen Raum für Zweifel und setzt den fortwährenden Fragen ein Ende.«
»Ich weiß«, hatte Bernie mit finsterer Miene gesagt. Einige Frauen fühlten sich zu einer klösterlichen Gemeinschaft hingezogen, weil sie zu innerer Einkehr neigten oder den Wunsch hatten, tiefer in die Mysterien des Lebens, der Liebe und der Ewigkeit einzudringen. Doch sobald diese Ebene erreicht war, konnte die Stille übermächtig werden. Eine Frage führte zur nächsten, und man konnte sich leicht in diesem Labyrinth verlieren. Einige Nonnen, wie Eleanor Marie, wurden Absolutisten, die überzeugt waren, ihr Glaube sei der allein selig machende.
Die Äbtissin hatte eine leidvolle Kindheit hinter sich. Sie war unehelich geboren und hatte ihren Vater nie kennengelernt. Laut Aussage einer alten Nonne, die sie von Kindesbeinen an gekannt hatte, war ihre Mutter Prostituierte gewesen und hatte ihre Tochter nachts ständig alleine gelassen. Und schlimmer noch, einer der Freier hatte sich an ihr vergangen, und ihre Mutter hatte es versäumt, sie zu beschützen. Bernie konnte verstehen, dass diese traumatischen Erfahrungen Eleanor Maries Herz verhärtet hatten, dass es erstarrt war vor Hass.
»Schwester Theodore ist ihr bedingungslos ergeben. Die meisten anderen nehmen sie in Kauf, genau wie ich. Sie ist sehr ehrgeizig. Ich denke, sie möchte irgendwann in unser Stammhaus nach Rom versetzt werden. Ich hoffe nur, die nächste Äbtissin ist weniger bösartig.«
»Bösartig ist ein starkes Wort«, erklärte Bernie nach längerem Überlegen, denn sie hätte nicht mit Sicherheit sagen können, ob es völlig unzutreffend war. Sie dachte an die junge Eleanor und alles, was sie erlitten hatte.
»Also gut, dann eben starrsinnig.«
Bernie hatte genickt. Das Konzept des Bösen war ein Thema, das den Theologen vorbehalten sein sollte. »Eleanor Marie versucht gerne den Lauf der Dinge – und das Schicksal von Menschen – in die eigenen Hände zu nehmen, sie nach ihrem Bild zu formen. Dieses Ziel hat sie bei mir verfolgt, von dem Tag an, als ich in den Orden eintrat.«
»Sie hat dich veranlasst, das Baby aufzugeben?«
»Du warst dabei, Annie. Du weißt, dass sie meine Entscheidung nachhaltig beeinflusst hat.«
Anne-Marie nickte und ergriff die Hand ihrer Freundin. »Du weißt, wie die Schwestern damals reagiert haben. Wir
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