Eine Frage des Herzens
Bernie sah die Genugtuung in ihren Augen, als hätte sie ihn nur provoziert, damit er sein wahres Gesicht zeigte, die Gewaltbereitschaft, die ihrer Meinung nach eine grundlegende männliche Eigenschaft war.
»Nein, Tom!«, schrie Bernie und zerrte ihn von Eleanor weg. »Das ist die Sache nicht wert!«
Seine Augen flackerten, offenbar hatte er sie gehört. Er trat zurück, doch dabei – als könnte er es sich nicht verkneifen – versetzte er Eleanor Marie einen Stoß, fegte sie beiseite wie eine lästige Fliege. Sie taumelte, fiel zu Boden und schrie dabei in einer Art masochistischem Triumph auf.
Tom stützte Bernie, während er sie an der auf dem Boden liegenden Nonne vorbeiführte. Sie spürte, wie er zitterte, als er sich bückte, um seine Stiefel aufzuheben, die er ausgezogen hatte.
Bernie sah sich um. Das war ihr Zuhause – nicht das Gebäude, sondern die Ordensgemeinschaft. Sie hatte beinahe ihr ganzes Erwachsenenleben bei den Schwestern von Notre Dame des Victoires verbracht. Das Kloster war ihr Sanktuarium, ihr Refugium, ihr Leben. Sie hatte geglaubt, von der Jungfrau Maria berufen zu sein, und stand nun vor der kleinen Alabasterstatue. Ihr Herz klopfte. Sie hielt nach einem Zeichen Ausschau, ganz gleich welches, Hauptsache, ein Hinweis, was sie nun tun sollte.
Doch sie sah nur den weißen Marmor, den lieblichen Gesichtsausdruck und offene Arme, geschnitzt von einem Künstler in einem anderen Jahrhundert. Tom verstärkte den Druck seines Arms und murmelte ihren Namen. Bernie blickte die Treppe hinauf und sah Schwester Anne-Marie auf dem Absatz stehen. Hinter ihr forderte Schwester Eleanor Marie Theodore abermals mit lauter Stimme auf, endlich die Polizei zu verständigen.
»Annie!«, rief Bernie.
»Ich liebe dich, Bernie«, rief Annie mit tränenerstickter Stimme zurück.
»Wir müssen weg«, mahnte Tom.
Bernie wandte sich von ihrer Freundin ab, sah Tom in die Augen, riss sich den Schleier vom Kopf und ließ ihn zu Boden fallen. Sie berührte den Ordner in seiner Hand und folgte ihm durch den Vordereingang nach draußen, die Steintreppe hinunter, durch das Eisentor, und verließ den Konvent.
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TEIL II
7
O akhurst war klein, verglichen mit den Landsitzen in Newport, aber davon durfte man gegenüber der Familie natürlich nichts verlauten lassen. Für sie war es ein hochherrschaftliches Anwesen wie The Breakers oder Marble House. Zugegeben, die Adresse war nobel, direkt an der Bellevue Avenue. Obgleich es am falschen Ende der Straße lag – in der Nähe des Einkaufszentrums mit Supermarkt und Brooks Drugs statt am Ocean Drive oder Bailey’s Beach. Und es war ein mit weißen Schindeln verkleidetes Haus, kein Gebäude aus Kalkstein, dem Baumaterial, das von den Vanderbilts, Astors und der Mehrzahl der Räuberbarone, die etwas auf sich hielten, bevorzugt wurde.
Das weiße Haus bestand aus acht Schlafzimmern, einem formalen Wohn- und Esszimmer, Salon, Bibliothek und einem Raum, der früher eigens für die kunstvolle Zusammenstellung des Blumenschmucks genutzt wurde. Die Küche befand sich im rückwärtigen Teil, mit einem riesigen Ofen und Kühlschrank für die zahlreichen Gäste der Familie. Sie erinnerten Kathleen an eine Großküche oder Kantine, eine Einrichtung, mit der sie hinlänglich vertraut war. Hier gab es einen riesigen Hackblock zum Zerkleinern und einen Tisch in der Mitte mit sechs Hockern, obwohl nur wenige Leute jemals darauf Platz genommen hatten. Vom Küchenfenster aus blickte man auf die frühere Remise, in der nun der Rolls-Royce, der Mercedes-Kombi und die einander gleichenden Porsche der beiden Söhne standen.
Das Wohnhaus war auf einem kleinen Grundstück errichtet – ungefähr ein Viertel Hektar groß – und füllte jede Handbreit aus, so dass es nur zwei Rasenflächen gab, eine vor dem Haus an der Avenue, die andere an der Rückseite, zwischen Küchentür und Remise. Die Eiche, die dem Anwesen ihren Namen verliehen hatte, wuchs im hinteren Garten, überschattete das Spitzdach und sorgte für Kühle in den unteren Räumen, so dass die Klimaanlage nur selten eingeschaltet werden musste.
Das Personal war im Dachgeschoss untergebracht, unter den steilen Dachrinnen. Hier oben gab es keine Klimaanlage. Selbst wenn alle Fenster weit offen standen, war die Hitze erdrückend. Kathleen hatte ihre eigene Kammer und einen Ventilator gekauft, der fast die ganze Zeit lief. Die Hitze setzte ihr schrecklich zu. Die hohe Luftfeuchtigkeit war ungewohnt, in Dublin gab
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