Eine Frage des Herzens
darauf.
»Bernie, wovon redest du? Warum?«
»Schau doch, Tom.« Er folgte ihrem Blick.
Die Schublade war mit dem Buchstaben
K
versehen.
»Kelly«, sagte er.
Dieses Mal ließ er jede Vorsicht beiseite. Er rammte das Stemmeisen in das Schubfach, schlug mit dem rechten Handballen darauf, und das weiche Holz zersplitterte. Er riss das Schubfach so heftig auf, dass der gesamte Inhalt zu Boden fiel. Bernies Herz klopfte; sie stand wie angewurzelt da, während sich Tom bückte, um nachzuschauen.
Sullivan. Das war der Name, unter dem man ihn im Krankenhaus registriert hatte. Bernie hatte ihn Thomas genannt, nach seinem Vater. Eleanor Marie hatte ihn als »Wechselbalg« bezeichnet, doch sie konnte seine Zugehörigkeit zur Kelly-Familie nicht leugnen und hatte ein sicheres Versteck für die Unterlagen gefunden.
»Da haben wir ihn«, flüsterte Tom und blätterte langsam die Akte durch. Er hob den Blick und sah Bernie an. »Unseren Sohn. Thomas James Sullivan. Abgelegt unter ›Kelly‹.«
Bernie nickte. Sie wendete den Blick ab, um nicht mit ansehen zu müssen, wie Tränen über Toms Wangen liefen. Er ergriff ihre Hand und zog sich hoch, blies die Kerzen aus und schloss sie in die Arme, die Akte ihres Sohnes zwischen ihnen, und sie ließ es geschehen.
Draußen im Korridor näherten sich Schritte. Schwere Schritte, gefolgt von leichteren. Als die Tür zum Außenbereich des Büros aufgerissen wurde und das Licht aufflammte, hatten sich Bernie und Tom bereits voneinander gelöst, waren über Holzspäne und ein Sammelsurium von Akten gestiegen, hatten die noch rauchenden Kerzen in einen Papierkorb aus Messing geworfen und schickten sich gerade zum Gehen an.
»Was fällt euch ein!«, schrie Schwester Eleanor Marie.
»Wir haben nur das geholt, was uns gehört«, erwiderte Tom.
»Wie könnt ihr es wagen!« Sie stürzte sich auf ihn und versuchte ihm die Akte zu entreißen. Bernie sah, wie er sie auf Armeslänge von sich hielt, die Unterlagen ihrem Zugriff entzog.
»Die Dokumente gehören dem Orden«, ließ sich Schwester Theodore, mit einem Anflug von Panik in der Stimme, aber gleichsam entschuldigend, vernehmen.
»Es geht um unseren Sohn«, entgegnete Bernie.
»Ich hole die Polizei«, keifte Schwester Eleanor Marie. »Und anschließend werde ich Rom von dem Vorfall unterrichten. Das wird dir noch leidtun, Bernadette. Das wirst du bis an dein Lebensende und darüber hinaus bereuen. Deine Tage als Äbtissin sind gezählt. Ich hoffe, das ist dir klar.«
»Wir gehen«, erwiderte Bernie. Ihre Stimme klang erstickt. Ihre Gedanken überschlugen sich, und sie bemerkte weder Toms entschlossene Miene noch den Triumph in Schwester Eleanor Maries Gesicht.
»Du wirst noch von mir hören«, schrie diese. »Du bist eine Betrügerin! Ich habe damals versucht, dir zu helfen, aber ich habe es dir gleich angesehen. Du hattest von Anfang an deine eigenen verborgenen Ziele, schon damals, vor dreiundzwanzig Jahren, bei deinem Eintritt in den Konvent. Habe ich es nicht gleich gesagt, Theodore?«
Schwester Theodore nickte stumm. Ihr Blick war traurig.
»Du hast hier nur eine Zuflucht gesucht, dich versteckt«, fuhr Schwester Eleanor Marie fort, »um deine Schande zu verbergen. Und welcher Ort wäre besser geeignet, sich nicht anschauen zu müssen, als ein Haus ohne Spiegel? Du hättest tiefer schauen sollen, auf den Grund deiner Seele. Ich betrachte es als mein Versäumnis, dass ich dich nicht dazu gezwungen habe.«
»Bernie, komm.« Tom legte den Arm um ihre Schultern. Sie zitterte und unterdrückte ein Schluchzen.
»Her mit der Akte«, sagte Schwester Eleanor Marie und blockierte die Tür.
»Nur über meine Leiche.« Tom und sie maßen sich mit Blicken.
»Ruf die Polizei«, befahl Schwester Eleanor Marie. Schwester Theodore griff mit bebenden Fingern nach ihrem Handy und beeilte sich, Folge zu leisten. »Ihr werdet das Haus nicht mit den Unterlagen verlassen.«
»Wir werden es nicht ohne sie verlassen«, sagte Tom. Er wollte sich umdrehen und gehen, doch Schwester Eleanor Marie trat zwischen ihn und Bernie.
»Du Hure«, zischte sie und blickte Bernie in die Augen.
Bernie wurde von einer Welle der Wut und Verzweiflung erfasst, doch bevor sie auch nur ein Wort über die Lippen brachte, blieb Tom stehen, wirbelte herum, starrte Eleanor Marie an, machte einen Satz nach vorn und stürzte sich auf sie wie eine Welle aus der Tiefe des Ozeans.
»Wie können Sie es wagen!«, brüllte er und packte Schwester Eleanor Marie an der Gurgel.
Weitere Kostenlose Bücher