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Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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meistbegehrten Junggesellen in Newport. Wenn sie nachts von einer Party nach Hause kamen, entbrannte meistens ein heftiger Streit, wer als Erster im Social Register nachschlagen durfte, ob die Frauen, die sie kennengelernt hatten, Rang und Namen besaßen und es sich lohnte, sich wieder mit ihnen in Verbindung zu setzen.
    Mit Andrew stimmte etwas nicht. Zum einen trank er zu viel. Unter seiner Sonnenbräune hatte seine Haut einen grünlich gelben Stich, ein Anzeichen dafür, dass seine Leber kränkelte. Er schmuggelte Alkohol aus der Küche, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und warf die leeren Flaschen nachts in den Müll. Er war überheblich, zugegeben, aber er hatte auch etwas Zurückhaltendes, Weichherziges an sich. Andrew war geschieden; Patricia, seine Ex-Frau, lebte mit dem gemeinsamen Sohn, den Andy nie zu Gesicht bekam, in New York. Die Gründe für die Scheidung wurden nie erwähnt, ebenso wenig wie darüber gesprochen wurde, weshalb er seinen Sohn nie besuchte.
    Er saß oft an der Küchentheke, rauchte und trank einen Gin Tonic nach dem anderen, wenn Kathleen arbeitete. Es störte sie nicht – er tat ihr leid. Er erzählte ihr vom Golfkrieg und seinem Einsatz bei der ersten Operation, Desert Storm. Als Kathleen nachrechnete, stellte sie jedoch fest, dass er log. Er war zu dem Zeitpunkt viel zu jung, um in den Krieg zu ziehen. Zu den weiteren offensichtlichen Lügen gehörte auch die Behauptung, er besitze etliche Patente auf Erfindungen, die ihm Millionen einbringen würden – wesentlich mehr Geld, als Patricias Familie besaß. Ihr Vater hatte nur ein einziges Patent auf eine Schlauchschelle und dreihundertzwanzig.
    Dreihundertzwanzig Millionen Dollar, wohlgemerkt. Geld war das Hauptthema der Familie Wells. Einige ihrer illustren Bekannten besaßen vierzig, andere nur elf Millionen und wieder andere über hundert Millionen. Dass Andy mit einer Frau verheiratet gewesen war, deren Familie dreihundertzwanzig Millionen schwer war – und die ihm dann den Laufpass gegeben hatte –, galt als grenzenlose Familientragödie und Skandal.
    Deshalb duldete ihn Kathleen in der Küche, gestattete ihm, ihr Gesellschaft zu leisten, wenn sie die Mahlzeiten für seine Familie zubereitete. Er benahm sich immer tadellos. Er respektierte die unsichtbare Grenze zwischen ihnen, versuchte nie, sich an sie heranzumachen oder eine zweideutige Bemerkung fallenzulassen. Wie in früheren Stellungen und bei anderen Familien, für die Kathleen gearbeitet hatte, kam sie sich bisweilen wie eine Therapeutin vor, die schweigend zuhört, wenn sich der Patient eine Last von der Seele redet. In diesem Fall konzentrierte sich das Gespräch hauptsächlich darauf, dass Andys drei Geschwister von den Eltern bevorzugt wurden, mehr Aufmerksamkeit – und Geld – bekamen. Alle erhielten höhere monatliche Zuwendungen als er; sein Vater würde ihm nie verzeihen, dass er geschieden war.
    Diese Grenze hätte Andy an einem Nachmittag im August um ein Haar überschritten. Kathleen hatte ihre Pause draußen gemacht, unter der Eiche, und einen Brief geschrieben, den sie nie abschicken würde. Das war für sie eine Überlebensstrategie – Briefe an einen jungen Mann zu schreiben, den sie das letzte Mal vor zehn Jahren gesehen hatte. Sie schüttete ihm ihr Herz aus, wohl wissend, dass keiner sie so gut verstanden hatte wie er. Sie vertraute ihm ihre geheimsten Ängste, Kümmernisse, Träume und Wünsche an. Die Tränen begannen zu fließen, als sie an ihn dachte und sich fragte, wo er jetzt wohl sein mochte, und sie barg das Gesicht in den Händen.
    Andy hatte es offenbar gesehen. Kurz vor dem Abendessen suchte er sie in der Küche auf.
    »Ich sah Sie auf dem Boden sitzen«, sagte er, »im Schneidersitz, vornübergebeugt. Sie schrieben etwas, völlig versunken … Die Sonne schien durch die Blätter der Bäume, auf Ihren Wangen glitzerten Tränen … Sie sahen so traurig aus. Ach Kathleen …«
    »Es ist alles in Ordnung«, entgegnete sie und runzelte die Stirn, während sie das Fleisch für die Hamburger formte.
    »Ich fühle mich Ihnen zutiefst verbunden«, hatte Andy geflüstert.
    »Verbunden?«
    »Sie wissen, wie es ist, wenn man sich verloren fühlt. Verloren und traurig. Ich werde den Anblick nie vergessen … werde mich immer daran erinnern.«
    »Welchen Anblick?«
    »Sie, Kathleen. Wie Sie in Ihrer weißen Tracht dasaßen, die Sonne, die in Ihren Haaren schimmerte. Die Tränen in Ihren Augen. Sie sahen wunderschön aus …

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