Eine Frage des Herzens
an. »Das werde ich dir nie vergessen.«
»Also gut«, räumte sie widerwillig ein. »Ich lasse euch nur ungern alleine, aber ich sehe ein, es ist eure Aufgabe. Gott schütze euch.«
»Danke.« Bernie umarmte ihre Freundin. Dann schlüpfte Anne-Marie aus dem Büro, und Bernie schloss hinter ihr die Tür. Sie eilte in das Gewölbe zurück und nahm Tom eine Kerze aus der Hand.
»Wie viel Zeit bleibt uns?«, fragte Tom.
»Zwei Stunden. Es ist kurz vor eins, und die Matutin beginnt um Viertel nach drei.«
»Dann lass uns anfangen.«
Bernie führte ihn die lange Reihe der hölzernen Aktenschränke entlang. Sie kamen an dem Buchstaben
S
vorüber, den sie bereits überprüft hatte. Annie hatte die Idee gehabt, in den Schubladen mit den Ordnern für die Heime der Adoptionsagenturen nachzuschauen – St. Thomas Aquinas, St. Augustine’s und St. Maurice. Der letzte Schrank in diesem Gang trug die Aufschrift »Institutionen«.
Tom betrachtete den Schrank und ließ die Hand über das edle Holz gleiten. Bernie wusste, wie sehr er handwerkliches Geschick schätzte und wie sehr es ihm widerstrebte, etwas zu beschädigen. Doch er setzte bereits das Stemmeisen an, und das Schloss sprang mit einem einzigen Schlag auf. Es war kaum Schaden am Holz entstanden, nur das Schloss war unbrauchbar.
Er hielt die Kerze hoch, und Bernie durchforstete die Akten. Sie zog Ordner heraus und breitete sie auf dem Fußboden aus. Die Unterlagen aus der Zeit vor 1983 schob sie beiseite. Sie konzentrierte sich auf die ersten Monate im Leben ihres Sohnes. Januar, Februar, März, April. Ein Name nach dem anderen: Ardigeen, Bannon, Bower, Charles, Darigan, Geary Howe, Killeen, Mahoney, O’Brien, O’Byrne, O’Malley, Reilly, Sullivan.
Bernies Herz klopfte. Sie schlug den Ordner auf und überflog die ersten Zeilen, während Tom über ihre Schulter spähte.
»Rosaleen«, sagte er. »Falsche Sullivan.«
»Sie muss da sein«, flüsterte sie.
Mai, Juni, Juli …
Weitere Namen, weitere Sullivans. Sie überprüften die Dokumente aller Heime. St. Thomas Aquinas in Blackrock, St. Augustine’s in Phibsboro und St. Maurice hinter St. Stephen’s Green.
»Phibsboro.« Tom starrte den Ordner an, der Informationen von St. Augustine’s enthielt. »Dort haben wir gewohnt, nach den Klippen …«
»Ich weiß«, flüsterte sie.
»Ich hoffe, dass er dorthin kam. Ich hoffe, er war eine Weile in Phibsboro. Um uns zu spüren. Obwohl wir bereits weg waren, war unsere Liebe noch dort, Bernie.«
»Pst, Tom.«
»Hier ist nichts. Kein einziges Dokument mit seinem Namen. Vielleicht bewahrt sie es wirklich unter ihrem Kopfkissen auf. Könnte es in dem Schreibtisch dort drüben sein? Ich werde notfalls jede gottverdammte Schublade aufbrechen.«
»Im Schreibtisch ist kein Platz, um Aktenordner aufzubewahren. Sie hat die Wahrheit gesagt. Sie hat die Dokumente vernichtet.«
Schweigend begannen sie aufzuräumen. Bernie war am Boden zerstört. Sie hatte die ganze Zeit nichts über den Aufenthalt ihres Sohnes gewusst, doch jetzt war das Bedürfnis, etwas über ihn zu erfahren, übermächtig. Sobald es sich eingenistet hatte, wuchs es unaufhörlich. Sie spürte es im ganzen Körper, ein Gefühl der Verzweiflung und Hilflosigkeit. Sie hatte das Empfinden, dass er ganz in der Nähe war, nur eine Armlänge entfernt. Wenn sie bloß wüsste, wo sie mit der Suche beginnen sollte.
Tom legte jede Akte in ihren Ordner zurück, stellte sie wieder in den Schrank und schloss diesen, so gut es ging. Die Holzsplitter rund um das zerbrochene Schloss glänzten im Kerzenschein. Sie gingen den Gang entlang, und Bernie wusste, dass Toms Herz genauso schwer war wie ihres. Sie legte die Hand auf seinen Arm. Ihre Fingerspitzen prickelten, und sie spürte, dass sie ihm etwas sagen musste.
»Was ist?«, fragte er.
Sie fühlte sich benommen. Empfindungen durchfluteten sie, und sie lehnte sich gegen die Wand, die Hand hinter sich, um sich abzustützen. Tom stand vor ihr, die Stirn gerunzelt, Besorgnis in den Augen. Die Jahre schmolzen dahin, und eine Sekunde lang stellte sie sich vor, wie sie damals gewesen waren, als verliebtes Paar.
»Tom …«
»Was ist, Bernie?«
Sie erstarrte. Sie hätte nicht sagen können, was sie bewog, genau an dieser Stelle in Eleanor Maries Archiv stehen zu bleiben. Über Toms Schulter hinweg sah sie ein Schubfach in der obersten Reihe und wusste Bescheid. Die Unterlagen ihres Sohnes befanden sich darin.
»Öffne sie«, sagte sie und zeigte
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