Eine Frage des Herzens
ich darf nicht mit den anderen Kindern an den Strand, im Sand und in den Wellen spielen … Eis essen.«
»Manchmal hat man mehr Spaß an einem Ort, an dem niemand sein möchte.« Sie dachte an den Innenhof des Kinderheims, umgeben von einem hohen Maschendrahtzaun, und das Unkraut, das in den Ritzen des Asphalts wuchs. Wie viel Spaß hatten James und sie dort gehabt … Ganz zu schweigen von den Jahren, als sie in Phantasievorstellungen von ihren leiblichen Eltern schwelgte, dem wundervollen Leben, das sie führten, dem herrlichen Garten. Sie zitterte, als sie sich an ihre Träume erinnerte.
»Einem Ort wie diesen, meinst du? Statt am Strand?«, fragte er.
»Ja. Ich könnte deine Freundin sein.«
»Aber du bist nur die Köchin.« Er blickte sie kalt an. »Ich darf mich nicht mit der Köchin anfreunden.«
Das versetzte ihr einen Stich, wenn auch einen kleinen. Kathleen hatte Schlimmeres erlebt. Sie lächelte den Jungen an und brachte ihm eine Kugel Eiscreme. Er schob die Schale beiseite und erklärte, Miss Langley habe gesagt, keine Süßigkeiten. Eine Stunde vor dem Abendessen, als Miss Langley mit Jackies Schwester Phillippa vom Strand heimkehrte, beobachtete Kathleen sein Gesicht.
Die Küchentür ging auf. Miss Langley watschelte herein – sie war nicht so dick wie Schwester Theodore, die immer unangemeldet im Heim aufgetaucht war, um sich nach James’ Befinden zu erkundigen, aber stämmig und mürrisch, und sie erinnerte Kathleen an die beleibte Nonne. Ihr Gesicht war humorlos, wenngleich nicht grausam. Bei ihrem Anblick sprang Jackie vom Hocker und warf sich schluchzend in ihre Arme.
»Es tut mir so leid, Nanny! Es tut mir leid, dass ich so böse war. Bitte sei wieder lieb zu mir,« rief er unter Tränen.
»Schon gut, Jackie, du weißt ja, ich liebe dich«, sagte Miss Langley, wobei ihre Stimme mit dem englischen Akzent brach. Kathleen spürte, dass sie es so meinte, und dachte an die Nonnen, die sich nach besten Kräften der Kinder anderer Leute annahmen. Miss Langley war Jackies Kinderfrau und hatte bereits seinen Vater großgezogen.
Kathleens Augen füllten sich mit Tränen, und sie drehte sich um, damit Miss Langley und Jackie nichts merkten. Erinnerungen gingen ihr durch den Kopf – an den Ort, wo sie aufgewachsen war, und den Ort, an den sie mit dreizehn gezogen war, an die Menschen, die sie zu lieben vorgaben, im Gegensatz zu denen, die sie wirklich liebten, an die bunt zusammengewürfelte Heimfamilie, verglichen mit Blutsverwandten. Ihr Herz ging auf, wie so oft, wenn sie an James dachte. Wohin war er verschwunden an jenem Sommertag, als sie ihn das letzte Mal am Strand gesehen hatte?
O nein, dachte sie. Das würde ein James-Tag werden. Sie versuchte dagegen anzukämpfen, doch es war zu spät. Sobald er auf diese Weise in ihr Bewusstsein eindrang, begannen sich Kummer und Bedauern Bahn zu brechen, und dann war es aus und vorbei. Die Seelenqualen waren so groß und überwältigend, als wären alle Menschen, die sie jemals gekannt oder geliebt hatte, gerade gestorben. Ihr Herz war schwer, ihre Knie fühlten sich weich an. Der Schmerz rollte heran, einer riesigen Welle gleich, und schlug über ihr zusammen.
Kathleen hatte in den letzten zehn Jahren unterschiedliche Methoden angewendet, um den Kummer zu vertreiben. In dieser Nacht lag sie auf dem Rücken in ihrem Mansardenzimmer, schwitzend und bei weit geöffnetem Fenster. Eichenblätter raschelten im Wind, und Grillen zirpten im Garten, zwei Stockwerke tiefer.
Als unten die Uhr Mitternacht schlug, stand sie auf. Die Wells schliefen bereits, die Töchter und Junes Mann besuchten eine Party auf irgendeiner Yacht und die Söhne eine Party auf der Hammersmith Farm. Bald würden Andy und Pierce nach Hause zurückkehren und sich um das Social Register streiten.
Nackt unter ihrem weißen Bademantel, tappte sie barfuß durch den Flur und die rückwärtige Treppe hinunter. Lautlos schlich sie durch den Korridor im zweiten Stock, an der geschlossenen Schlafzimmertür der Eltern vorbei. Mrs. Wells schnarchte laut und anhaltend.
Als sie das Badezimmer von Pierce erreichte, trat sie ein, schloss die Tür hinter sich und betrachtete sich im Spiegel. Ihr Gesicht war gerötet von der Hitze. Ihre Augen glänzten – nur James wusste, dass der Kummer schuld daran war und das Licht von den Eissplittern in ihrem Herzen stammte, die sich in ihrem Blick spiegelten. Jemand anders hätte Glück, Aufregung oder leidenschaftliches Verlangen darin gesehen. Doch
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