Eine Frage des Herzens
sie zu belügen, und so antwortete er nicht. Sie umarmte ihn abermals, setzte ihm eine warme Mahlzeit vor, hielt seine Hand und strich ihm die langen schmutzigen roten Haare aus den Augen. Er wusste, dass sie ihn gerne unter die Dusche gestellt hätte. Der Gedanke an den eigentlichen Grund seines Kommens ließ ihn erzittern.
»Schwester, ich brauche Kathleens Adresse.«
»Die kann ich dir nicht geben, James.« Seine Bitte erschütterte und schmerzte sie. »Du weißt, solche Informationen sind streng vertraulich.«
»Vielleicht braucht sie mich«, sagte James, der nicht zugeben wollte, dass er unlängst schlecht geträumt hatte. Kathleen hatte weinend am Fenster gestanden, in einen Raum eingesperrt, aus dem es kein Entrinnen gab.
»Sie lebt jetzt bei ihrer Familie«, hatte Schwester Anastasia freundlich erwidert. »Ich weiß, wie nahe ihr euch beide standet, wie sehr ihr euch umeinander gekümmert habt. Ich liebe Kathleen auch und vermisse sie sehr – genau wie du. Aber wir müssen sie ihren Weg gehen lassen, James. Wir müssen akzeptieren, dass sie bei ihren Eltern ist und ein neues Leben im Schoß ihrer Familie begonnen hat.«
Ich bin ihre Familie, hätte James am liebsten gesagt, von Gefühlen überwältigt.
»Ich ertrage die Ungewissheit nicht, Schwester. Keinen einzigen Tag mehr, keine einzige Minute. Ich verspreche, dass ich sie nicht belästigen oder mich in ihr neues Leben drängen werde. Ich möchte sie nur sehen, mich vergewissern, dass es ihr gutgeht. Bitte geben Sie mir die Adresse. Ich schwöre, ich werde keinen Ärger machen …« Er war zusammengebrochen und schämte sich deswegen. Er versuchte hart zu sein, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und hielt sich etwas darauf zugute, dass er nie weinte. Doch hier, in seinem früheren Zuhause, in Gegenwart der Nonne, die ihn großgezogen hatte, gewannen seine Gefühle die Oberhand.
Schwester Anastasia hatte seine Hand gehalten. Er hatte sie ihr nicht entzogen. Seine Worte hatten sie offensichtlich angerührt. Als er sich wieder gefangen hatte, sah er die Besorgnis in ihren Augen.
»Ihre Eltern waren sehr beharrlich«, sagte sie. »Sie haben verlangt, dass sie jegliche Verbindung zum Heim abbricht.«
»Was soll das bedeuten? Woher wissen Sie das?«
»Als sie noch einmal herkam, waren sie sehr wütend«, erwiderte Schwester Anastasia ruhig.
»Sie kam noch einmal her?« James’ Herz klopfte zum Zerspringen. »Weshalb?«
»Um sich nach dir zu erkundigen.«
James konnte seine Gefühle kaum im Zaum halten. »Was hat sie gesagt?«
»Sie wollte wissen, was passiert ist, nachdem du weggelaufen warst, ob du vielleicht zurückgekommen bist und wieder bei uns lebst. Oder ob ich etwas von dir gehört habe.«
James nickte und wartete.
»Natürlich bist du nicht zurückgekommen. Aber komm jetzt nach Hause, James. Bitte. Ich mache mir schreckliche Sorgen um dich.«
»Schwester, was hat sie sonst noch gesagt?«
»Nichts, James. Sie war sehr entmutigt, als sie erfuhr, dass du nicht zurückgekehrt warst.«
»Hat sie eine Nachricht, eine Botschaft für mich hinterlassen?«
»Das hat sie. Doch dann kam ihr Vater zu mir und verlangte sie zurück.«
James’ Herz war schwer. Tränen brannten in seinen Augen. Er stellte sich vor, dass die Worte, die sie geschrieben hatte, nur für ihn bestimmt waren, Worte, die er nie lesen würde.
»Wie lautete sie?«, flüsterte er.
»Ich habe sie nicht gelesen.«
»Dann sagen Sie mir, wo sie ist, Schwester. Ich schwöre, dass ich keinen Ärger machen werde. Sie wissen, wie viel sie mir bedeutet. Ich würde nie etwas tun, was ihr schadet …«
James sah, wie die Nonne die Augen schloss, um eine Entscheidung zu treffen. Er begriff, dass er in den Augen der Kirche, des Kinderheims und der Welt kein Anrecht darauf hatte, etwas über Kathleens Verbleib zu erfahren. Aber er hatte auf andere Weise an Schwester Anastasia appelliert – an ihr großes Herz. Sie kannte das Leben im St. Augustine’s, sie hatte James und Kathleen zusammen aufwachsen sehen.
»Gut, ich gebe dir die Adresse«, sagte sie schließlich. »Unter einer Bedingung. Dass du ins Heim zurückkommst. Und hierbleibst, bis du achtzehn bist.«
James’ Hände hatten zu zittern begonnen. Er dachte an die Widrigkeiten, denen er sich gegenübersah, an die Brücken, unter denen er schlief, an die Bosheit der Menschen, gegen die er sich zur Wehr setzen musste. Er dachte an die schlaflosen Nächte, den leeren Bauch, die furchtbare Einsamkeit. Er wusste, nach
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