Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Frage des Herzens

Eine Frage des Herzens

Titel: Eine Frage des Herzens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
Vom Netzwerk:
alles in Gruppen stattfand, schätzte er seine Privatsphäre und hatte keinerlei Bedürfnis, seinen Wohnraum mit jemandem zu teilen.
    Draußen vor dem Fenster lag Dublin noch in tiefem Schlaf. Er musste los, um den Bus zur Arbeit zu erwischen. Ende August herrschte im Hotel Hochbetrieb. Viele Touristen kamen aus Amerika, um hier Urlaub zu machen, und etliche wollten die ländliche Umgebung besichtigen. Er hoffte, dass heute jemand dabei war, der Lust hatte, ans Meer zu fahren.
    In seiner Arbeitskleidung, schwarzer Anzug und Krawatte, putzte er seine Brogue-Schuhe mit den Lochverzierungen auf der Kappe. Dann blickte er in den Spiegel und kämmte seine roten Haare. Er legte Wert darauf, einen professionellen Eindruck zu machen, als gehörte er hinter das Lenkrad einer Luxuslimousine, in der er betuchte Fahrgäste chauffierte.
    Er trat aus der Tür und sperrte hinter sich zu, die Zeitung unter den Arm geklemmt. Das Abonnement kostete ihn eine Stange Geld, doch das war es ihm wert. Er fand es wichtig, gut informiert zu sein, um auf seine Fahrgäste einen intelligenten Eindruck zu machen. Abgesehen davon wollte er eines Tages Anwalt werden, da musste er sich über Rechtsfälle auf dem Laufenden halten, sowohl in Irland als auch auf internationaler Ebene.
    Er erwischte den Bus, nahm ungefähr in der Mitte Platz und schlug die Zeitung auf. Er las immer die erste Seite und warf einen Blick auf die Football-Ergebnisse. Das war ein weiterer Grund, die
Times
zu abonnieren. Seit Kevin und Eileen verlobt waren, las er die Nachrichten noch eifriger, überflog alle Meldungen, egal in welcher Rubrik, ob sie ihn interessierten oder nicht, auf der Suche nach ihrem Namen.
    Im Lauf der Jahre hatte er den Namen Kathleen mehrmals gesehen, und auch Murphy. Aber zusammen hatte er die beiden Namen nur dreimal entdeckt. Die erste Kathleen Murphy besuchte die Highschool in Meath und hatte den Preis für Naturwissenschaften ihrer Schule gewonnen; bei der zweiten handelte es sich um eine Bankerin, die an einem internationalen Gipfeltreffen in Genf teilgenommen hatte; und die dritte war Großmutter, hatte zwanzig Enkelkinder und mit zweiundneunzig Jahren das Zeitliche gesegnet.
    Seamus war sich nicht einmal sicher, ob Kathleen Murphy überhaupt noch so hieß. Vielleicht hatten ihre Eltern sie auf einen anderen Vornamen getauft, als sie sie nach Hause holten. Und ihr richtiger Name lautete vielleicht gar nicht Murphy, sondern wurde nur in St. Augustine’s verwendet. Namen waren Schall und Rauch, wenn man in einem Heim aufwuchs. Auf seiner Geburtsurkunde stand »Thomas James Sullivan«, aber in St. Augustine’s hatte man ihn James genannt – dort gab es bereits zwei Jungen namens Tom.
    Nun nannte er sich Seamus, die irische Version von James. Er hatte kein Interesse an seinem Geburtsnamen, geschweige denn an den Leuten, von denen er stammte. Wer machte sich schon die Mühe, einem Baby einen Namen zu geben und es dann in ein Heim abzuschieben? Das machte für ihn keinen Sinn.
    Während der Busfahrt zur Arbeit überflog er die Zeitung – er gab die Hoffnung nicht auf. Irgendwo musste sie doch sein. Was würde er tun, falls er ihren Namen tatsächlich entdeckte? Allein der Gedanke erfüllte ihn mit Energie, erwies sich jeden Tag aufs Neue als Antriebskraft.
    Kevin und Eileen so glücklich zu sehen, im Begriff, ein neues gemeinsames Leben zu beginnen, hatte ihn nachdenklich gestimmt. Manchmal, wenn er sich mutlos fühlte und fürchtete, Kathleen nie wiederzusehen, sagte er sich, die Suche nach ihrem Namen sei lediglich ein Zeitvertreib, ein Spiel, das er ersonnen hatte, genau wie andere Leute Kreuzworträtsel lösten. Doch das war eine Lüge, die er sich bis zu ihrem Wiedersehen einzureden versuchte.
    Er musste wissen, dass sie glücklich und wohlauf war. Er stellte sich vor, dass ihre Eltern ihr am Ende doch noch ein harmonisches Familienleben geboten hatten. Zumindest war sie nie mehr nach St. Augustine’s zurückgekehrt. Er wusste es, weil er sich dort nach ihr erkundigt hatte.
    Mit vierzehn, ein Jahr nachdem er bei besagtem Strandausflug auf Nimmerwiedersehen verschwunden war, war er schnurstracks zur Tür hereinmarschiert. Schwester Anastasia wäre beinahe in Ohnmacht gefallen und hatte ihn unter Tränen umarmt.
    »O James, mein lieber Junge, wir dachten, wir würden dich nie wiedersehen.«
    »Jetzt bin ich hier, Schwester.«
    »Gott sei Dank, James. Wo warst du? Sag nicht, du hast auf der Straße …«
    Er brachte es nicht über sich,

Weitere Kostenlose Bücher