Eine Frage des Herzens
seiner Rückkehr ins St. Augustine’s ohne Kathleen würde die Einsamkeit zehnmal schlimmer sein, aber er hatte es satt, zu frieren und Hunger zu leiden, ums Überleben zu kämpfen. Er nickte.
»Einverstanden.«
»Hier.« Schwester Anastasia schrieb die Adresse auf ein Blatt Papier und schob es über den Tisch.
James ergriff es und steckte es in die Tasche. Er gelobte feierlich, dass er am Abend zurück sein würde, sobald er Kathleen gefunden hatte.
Als er jetzt mit dem Bus durch Dublin fuhr, blickte er von seiner Zeitung hoch und sah aus dem Fenster. Im Osten brach der Tag an, eine schmale goldene Linie am Fuß der Dunkelheit über der Dublin Bay.
Er war zu der Adresse gegangen, die Schwester Anastasia ihm gegeben hatte. Sie befand sich am Rande von Blackrock, einer eilends errichteten Bungalowsiedlung im Süden von Dublin, wo die Bauträger wie die Heuschrecken in die ländliche Idylle eingefallen waren und sie dem Erdboden gleichgemacht hatten. Die Häuser glichen sich wie ein Ei dem anderen. James war so aufgeregt, Kathleen wiederzusehen, dass er keinen Blick für die Umgebung übrig hatte.
Er stieg die Stufen hinauf und läutete an der Tür. Eine Frau öffnete – groß, dünn, keinerlei Ähnlichkeit mit Kathleen. James räusperte sich.
»Ich suche Kathleen Murphy«, sagte er.
»Wen?«
»Äh … Kathleen …«, wiederholte er, für den Fall, dass sich ihr Familienname geändert hatte.
»Oh, ungefähr in deinem Alter?«
»Ja. Vierzehn.«
»Sie muss zu der Familie gehört haben, die hier früher wohnte – die hatten ein Mädchen im Teenageralter. Sie sind vor ein paar Monaten ausgezogen.«
»Aber das ist die Adresse, die ich habe.« James wies auf das Papier hin, als wäre es eine Steintafel, die das Haus als Wohnort von Kathleen auswies.
»Aha. Doch wie ich bereits sagte, sie sind weggezogen.«
»Und wohin?« James’ Stimme wurde lauter und schriller. »Wohin?«
»Sie haben keine Nachsendeadresse hinterlassen«, sagte die Frau. »Eine Schande, weil wir immer noch Kataloge und Rechnungen bekommen, die für sie bestimmt sind.«
James hatte sich umgedreht und war wortlos gegangen. Er hatte Schwester Anastasia ein Versprechen gegeben, und er hielt es und kehrte nach St. Augustine’s zurück. Als sie wissen wollte, ob er Kathleen gefunden hatte, schüttelte er nur den Kopf. Jedes Wort erübrigte sich; sie sah die Verzweiflung in seinen Augen. Sie behandelte ihn liebevoll, übertrug ihm die Aufgabe, bei der Betreuung der jüngeren Kinder zu helfen und stundenweise im Büro zu arbeiten. An manchen Vormittagen hatte er Telefondienst und hörte nie auf zu hoffen, dass Kathleen anrufen und fragen würde, ob sie zurückkommen dürfe.
Doch das geschah nie. Und er blieb nur ein paar Monate dort. Ohne Kathleen war St. Augustine’s ein Heim, aber kein Zuhause.
Nun hielt der Bus an der Bannondale Road. Er stieg aus und ging die Straße entlang zum Greencastle. Er trat ein, warf einen Blick auf seine Anweisungen für den Tag und begab sich in die Tiefgarage, um den blitzsauberen silbernen Mercedes zu holen.
Als er in den Innenhof fuhr, sah er Kevin. Er stand neben seinem Mercedes, ebenfalls frisch gewaschen, und wischte mit einem Fensterleder ein paar verirrte Wassertropfen weg. Die Freunde grinsten und begrüßten sich mit Handschlag.
»Was liegt heute bei dir an?«, fragte Seamus.
»Ich muss zwei Geschäftsleute aus Belfast in der Stadt herumkutschieren. Die sagen mir, wohin. Und du?«
»Ich habe ein Pärchen, das Urlaub macht.« Seamus überflog noch einmal seinen Tagesplan. »Die beiden wollen Powerscourt besichtigen.«
»Schön«, sagte Kevin. »Eileen findet es da herrlich. Die japanischen Gärten, den Tierfriedhof. Sie mag vor allem die alte Kuh, die dort ihre letzte Ruhe gefunden hat, nachdem sie vierhundertfünfzigtausend Liter Milch produziert hat.«
»Eine sagenhafte Kuh, wem würde die nicht gefallen?«, erwiderte Seamus lächelnd. Es war schön, den Tag mit Kevin scherzend zu beginnen. »Wie wird das Wetter heute?«
»Ein wenig unbeständig, würde ich sagen.« Kevin blickte zum Himmel empor, der grau und bedeckt war. »Wenn wir bis Mittag warten, wissen wir es genau. Mein Großvater ist fest überzeugt, wenn das Wetter bis Mittag unbeständig ist, bleibt es für den Rest des Tages wechselhaft.«
Seamus nickte und fragte sich, wie es sein mochte, einen weisen Großvater zu haben. Er musste sich auf Wetterberichte und seine eigenen Mutmaßungen verlassen, und er speicherte die
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