Eine Frage des Herzens
geborgten Informationsbruchteile sorgfältig in seinem Gedächtnis – wie das Wissen, das er sich von Kevin aneignete –, um sie irgendwann seinen eigenen Kindern zugutekommen zu lassen. Er verabschiedete sich von seinem Freund mit Handschlag und begrüßte Mr. und Mrs. Whelan, seine Fahrgäste.
Noch bevor er Dalkey erreichte, hatten sie ihm erzählt, dass sie aus Waterford stammten und die viertägige Reise nach Dublin von ihren Kindern zum fünfundzwanzigsten Hochzeitstag geschenkt bekommen hatten. Seamus betrachtete sie im Rückspiegel. Er schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie saßen dicht nebeneinander und hielten sich an den Händen. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich ein schwacher Abglanz ihrer Zuneigung wider. Sein Herz verkrampfte sich, als er seinen Blick erneut auf die Straße richtete.
Sie haben bestimmt eine glückliche Familie, dachte er. Kinder, die ihnen ein solches Geschenk machen – der Aufenthalt im Greencastle war nicht billig. Seine Eltern müssten ungefähr im gleichen Alter sein. Seine Eltern und die Kathleens.
Es gab Wege im Leben, die einem versagt blieben, wie Seamus wusste. Er hatte die Abfahrt verpasst, die zum Familienleben führte. Als er dem Paar auf dem Rücksitz zuhörte, das miteinander scherzte, lachte und beschloss, die Kinder vom Handy aus anzurufen, um ihnen vom bisherigen Verlauf der Reise zu erzählen, hatte er das Gefühl, Menschen vor sich zu haben, die eine fremde Sprache sprachen.
Wie machten das die Leute? Dass sie zusammenfanden und zusammenblieben? Seit frühester Kindheit hatte er gedacht, dass Kathleen und er gemeinsam durchs Leben gehen würden. Als sie getrennt wurden, hatte er seine Bindung zur Liebe verloren und gewissermaßen auch die Verbindung zum Rest der Menschheit. Er war auf sich allein gestellt im Leben, wurde nur von dem Traum angetrieben, Kathleen eines Tages wiederzufinden. Während er dem Langzeitpaar auf dem Rücksitz lauschte, fühlte er sich wie ein Besucher von einem anderen Stern, der den Sinn in einer Welt suchte, die alle anderen von Geburt an kannten.
»Seamus, sind Sie eigentlich verheiratet?«, fragte der Mann.
»Nein, Sir.«
»Liebling, er ist viel zu jung«, sagte die Frau. »Aber ich wette, er hat eine Freundin. Stimmt’s, Seamus?«
»Derzeit nicht, Ma’am.«
»Das kommt schon noch«, erwiderte sie. »Und wenn es ernst wird, hoffe ich, dass Sie genauso glücklich werden wie Frank und ich. Fünfundzwanzig Jahre sind wir zusammen …«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Seamus höflich mit Blick in den Rückspiegel.
»Woher stammt Ihre Familie?«, erkundigte sich der Mann.
»Aus Dublin«, antwortete Seamus, obwohl er es nicht wusste. Doch Dublin war immer sein Zuhause gewesen.
»Aha, eine Großstadtpflanze. Wir leben in einer Kleinstadt, aber das spielt keine Rolle. Wenn man jemanden liebt, folgt man ihm bis ans Ende der Welt. So sollte es zumindest sein. Und so habe ich es mit Sheila gehalten.«
»Sehr gut, Sir.«
»Diese Lektion habe ich auch meinen Söhnen weitergegeben. Drei an der Zahl, alle verheiratet.«
»Wir haben vier Enkelkinder«, sagte die Frau. »Sie sind das Beste, was uns im Leben passieren konnte. Bestimmt hoffen auch Ihre Eltern, dass Sie eines Tages ein nettes Mädchen heiraten und Kinder in die Welt setzen, ihnen Enkel schenken …«
Seamus nickte stumm. Kevin und Eileen würden heiraten, Kinder haben, ihre Eltern zu glücklichen Großeltern machen. Er wandte seine Aufmerksamkeit der Straße zu. Seine Gedanken schweiften zu seinen Eltern ab. Waren sie überhaupt jemals zusammen gewesen, als Paar? Oder hatte sein Vater lediglich ein Mädchen geschwängert und sitzenlassen, wie die vielen Frauen, die ihre Kinder ins St. Augustine’s abschoben?
Oder waren sie zu jung gewesen, um ihn großzuziehen, hatten ihn weggegeben, waren aber zusammengeblieben? Vielleicht hatten sie noch weitere Kinder bekommen und behalten. Vielleicht hatte er Brüder und Schwestern. Er wusste es nicht, und es war ihm auch egal. Kathleen und die Nonnen waren seine einzige Familie gewesen – und er hielt an seiner Überzeugung fest, dass Kathleen irgendwann wieder seine Familie sein würde.
Während er in Richtung Süden fuhr und sich auf die Straße konzentrierte, hörte Seamus dem Paar im Fond mit einem Ohr zu. Er wollte beobachten, wie sie miteinander sprachen, wie sie miteinander umgingen. Sobald er Kathleen wiedergefunden hatte, würden sie sich verloben, genau wie Kevin und Eileen, und er musste wissen, wie er
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