Eine Frage des Herzens
blickte Bernie stirnrunzelnd an, als wollte er sagen: Siehst du? Sie schenkte ihm keine Beachtung, war aber beruhigt. Seit sie durch die Eingangstür gegangen waren, hatte sie das Gefühl, unter Hochspannung zu stehen und das Heim genau unter die Lupe nehmen zu müssen.
»Wir sind gekommen, um etwas über einen Jungen zu erfahren, der hier untergebracht war. Unseren Sohn«, sagte Tom.
»Aha.« Die Nonne stand reglos da. Sie war Anfang dreißig, schlank und drahtig, mit einem freundlichen Blick und einem unerschütterlichen Lächeln. Sie öffnete eine Schublade und holte einige Blätter heraus. »Bitte füllen Sie die Formulare aus. Es ist ein zeitaufwendiger Prozess, aber Sie können ihn heute in die Wege leiten. Beginnen Sie mit seinem Geburtsdatum und …«
»Er ist am 4 . Januar 1983 geboren«, sagte Tom.
Die junge Nonne nickte. »Ich bin sicher, Sie wissen, dass wir mit der Weitergabe von Informationen über unsere Zöglinge sehr vorsichtig sein müssen. Tatsache ist …«
»Schwester Felicity«, rief eine ältere Nonne aus dem rückwärtigen Teil des Büros.
Als sie ihren Namen hörte, drehte sich die junge Nonne um. »Ja, Schwester Anastasia?«
»Ich weiß, wer die Leute sind«, sagte diese und eilte herbei. Sie war groß, leicht gebeugt, mit zerfurchtem Gesicht und wachen grauen Augen. Als sie das Büro durchquerte, sah sie an Schwester Felicity und Tom vorbei auf Bernie. Als Bernie den Blick der Nonne spürte, überlief sie ein Schauer. Sie berührte den Rezeptionstisch, um sich abzustützen.
»Hat Schwester Eleanor Marie Sie vor uns gewarnt?«, fragte Tom und stellte sich zwischen Bernie und Schwester Anastasia. »Macht nichts. Wir sind aus Amerika hierhergekommen, und ich schwöre Ihnen, wir werden …« Bernie nahm den Gesichtsausdruck der älteren Nonne wahr, sah die Liebe und Warmherzigkeit in ihren Augen und legte Tom beschwichtigend die Hand auf den Arm.
»Niemand musste mich vor Ihnen warnen, Thomas«, erwiderte Schwester Anastasia freundlich. »Oder vor Ihnen, liebe Bernadette … Ich habe Sie beide erwartet. Bitte folgen Sie mir.«
Sie eilte um den Rezeptionstisch herum und ergriff Bernies Hand. Und Bernie, blind vor Tränen, wie ein verirrtes Kind, das endlich, nach unerträglich langer Zeit, den Weg nach Hause gefunden hatte, ließ sich von Schwester Anastasia durch den langen gelben Korridor führen, während Tom dicht hinter ihr ging.
Das Büro war groß, wobei die eine Hälfte von einem Schreibtisch, Stuhl und Sofa und die andere Hälfte von einer Puppenstube, Spielzeug und einem Kindertisch mit Stühlen in bunten Farben eingenommen wurde. Jede Handbreit der Wandflächen war mit Bildern bedeckt – Fingermalereien, Zeichnungen und ausgemalte Bilder von Kindern aller Altersgruppen. Und nicht zu vergessen die Fotografien – Schulporträts, Gruppenbilder und Schnappschüsse von Kindern am Strand.
Tom sah, wie sich Bernie verstohlen über die Augen wischte und mit verschwommenem Blick die Wand betrachtete. Fragte sie sich, ob sich auch ein Bild von ihrem Sohn darunter befand? Tom wartete, bis sie auf dem Sofa Platz genommen hatte, dann setzte er sich neben sie. Schwester Anastasia reichte ihr eine Schachtel mit Papiertüchern und nahm ihren angestammten Platz hinter dem Schreibtisch ein.
»Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, Sie hätten uns erwartet?«, fragte Tom mit einem schützenden Blick auf Bernie. »Das haben wir seit unserer Ankunft in Irland schon oft zu hören bekommen.«
»Mehrere Dinge«, erwiderte Schwester Anastasia. »Erstens, Sie hatten recht, Schwester Eleanor Marie hat tatsächlich angerufen, um mir mitzuteilen, dass Sie James’ Akte in Ihren Besitz gebracht haben.«
»James?« Bernies Stimme versagte.
»Ja. Ihr Sohn.«
»Wir haben ihn Thomas genannt«, flüsterte Bernie.
»Ich weiß«, sagte Schwester Anastasia. »Aber es gab hier bereits mehrere Jungen namens Tom und Tommy. Wir haben uns für seinen mittleren Namen entschieden, um ihm die Suche nach der eigenen Identität zu erleichtern.«
Tom sah, wie Bernie die Information aufnahm. Es berührte ihn zutiefst, dass der Name ihr noch heute so viel bedeutete.
»Was für eine Rolle spielte es, wie viele Toms es hier gab?«, fragte Bernie. »Sobald er seine Adoptivfamilie hatte, war er doch der Einzige …«
»Theoretisch ja«, erwiderte Schwester Anastasia bedächtig.
»Theoretisch?«
»Sie gehen davon aus, dass er adoptiert wurde, meine Liebe.«
»Er …« Bernie verstummte bestürzt.
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